Theodor Wolff
Spaziergänge
Theodor Wolff

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Der König amüsiert sich

(Marstrand)

Marstrand liegt am äußersten Rande des Göteborger Schärenarchipels, hart am offenen Meere. Diese alte Schwedeninsel hat eine historische Vergangenheit, aus der ein paar Festungsruinen übriggeblieben sind. Die Inselstadt, in deren Straßen man viel bergauf und bergab steigt, wird durch eine breitrückiges, felsiges Vorgebirge gegen die westlichen Winde, die vom Kattegatt kommen, geschützt. Wenn man auf dieses Vorgebirge hinaufklettert, überblickt man das Labyrinth der Schären und das Meer. Hinter den tiefschwarzen, im Schatten ruhenden Schären tauchen ferne und immer fernere auf, die in der Sonne hell und schneeig schimmern. Große Schwärme von Möwen streichen in niedrigem Fluge über das blaue Wasser hin, und die Segelboote scheinen so scharf an den Klippen vorbeizuschießen, daß man sie fortwährend in Gefahr glaubt.

Marstrand ist das Trouville, das Ostende der Schweden. Wer Ruhe sucht, geht nach Särö, und wer Vergnügen sucht, geht nach Marstrand. Das Vergnügen von Marstrand ist kein ausgelassen wildes, kein 212 waghalsig tolles – es ist ein artiges, solides und wohlanständiges Vergnügen. Im Kurhause gibt es einen großen Tanzsaal und Lesezimmer, und auf dem Kurplatz spielt eine tüchtige und unermüdliche Kapelle. Alte Damen, denen das Gehen schwer fällt, und junge Mädchen, die voll Lebenslust sind, genießen hier im Schatten einiger Bäume gute Luft, Nußtörtchen und Musik. Dieser Kurplatz erinnert ein wenig an die Kurplätze kleiner thüringischer Badeorte. Sehr bedauerlich ist, daß die Seebäder nur in einem sorgfältig umzäunten, mit Brettern und Segelleinwand ringsum verhüllten Quadratmeterchen Wasser verabreicht werden. Ich kann nicht sagen, ob die Badenden sich das Meer der vielen brennenden Quallen oder der Sittsamkeit wegen so gewissermaßen durchgesiebt servieren lassen.

Auf der Ostseite hat Marstrand eine andere, ganz kahle und unbebaute Schäreninsel zum Gegenüber. Zwischen den beiden Inseln liegen die Schiffe ruhig und sicher wie in einem Hafen. Am Kai von Marstrand legen die Dampfer an, die von Göteborg kommen und noch ein Stückchen nach Norden an der schwedischen Küste hinauffahren. Schiffer, Packträger und ähnliche Hafengestalten lungern hier tagsüber herum, und das Badepublikum promeniert auf dem Kai und sieht zu, was alles den Schiffen entsteigt. Wie in den meisten Inselbädern gehört es auch hier zum Vergnügungsprogramm, an stürmischen Tagen die bleichen Mienen der Ankömmlinge zu belächeln. Das Meer, das für die einen »das göttliche« ist, ist für die anderen bekanntlich ein Brechmittel.

In diesem ruhigen Wasser zwischen den Inseln liegt 213 seit einigen Wochen die weiße Jacht des Schwedenkönigs Oskar. Dieser Monarch kommt in jedem Sommer nach Marstrand und verweilt hier ziemlich lange Zeit. Er wohnt auf seiner Jacht, fährt regelmäßig um die Mittagsstunde zum Lande, unterhält sich mit den alten Herren und lieber noch mit den jungen Mädchen, spricht mit seinen Freunden und erscheint an jedem Sonnabend im Kurhause bei der »Reunion«. Von Zeit zu Zeit präsidiert er auch einem Ministerrat an Bord seines Schiffes, und tagtäglich regiert er von seiner Kajüte aus Schweden samt Norwegen.

Die meisten Menschen haben immer noch eine ausgesprochene Neigung, sich mit dem Privatleben und dem häuslichen Tun und Treiben der Könige eingehend zu beschäftigen. Es gibt eine Legion alter Damen, die in den kompliziertesten fürstlichen Familien Bescheid wissen und ganz genau sagen können, wieviel Kinder die sämtlichen mecklenburgischen Prinzessinnen zur Welt gebracht haben. Idealisten und fromme Schwärmer mögen dieses Interesse an allem, was in höfischen Privatgemächern zugeht, bespötteln – sie haben sehr unrecht. Wenn die Politik auch heute etwas weniger in den Schlafzimmern und etwas mehr in den Ministersälen gemacht wird, und wenn auch die schnelle Verdauung der Souveräne nicht mehr ganz so viel Wichtigkeit hat wie in den Tagen, da die Leibärzte Ludwigs des Vierzehnten jedes dieser Verdauungssymptome in ihrem »Journal« vermerkten, so kann doch nur ein gänzlich Blinder leugnen, daß auch heute noch ungeheuer viel von den persönlichen Neigungen, den häuslichen Einflüssen und dem körperlichen Wohlbefinden der 214 Monarchen abhängt. Die Erfahrung lehrt, daß die Völker oft am glücklichsten sind, wenn ihre Fürsten gut schlafen.

Unter all den Herrschern, welche heute auf Thronen oder Thrönchen sitzen, dürfte keiner so sehr auf den Namen eines »Bürgerkönigs« Anspruch haben wie der König Oskar. Nicht daß er – geistig oder körperlich – irgendeine Ähnlichkeit mit dem guten Louis Philippe hätte. Er ist ein Poet, und Louis Philippe war ein Bankier – er ist sehr groß, sehr schlank, sehr majestätisch, und Louis Philippe war klein, fett und schon in seinem Äußeren ein behaglicher Spießbürger. Aber er führt das Leben eines wohlhabenden schwedischen Bürgers, er lebt in und mit dem schwedischen Bürgertum, er ist der wahre König dieser handeltreibenden, lebensfrohen, optimistischen Bourgeoisie. Er übersetzt das »Juste milieu« ins Schwedische. Wenn es in Schweden einen Béranger gäbe, so könnte auch er als die Gottheit dieses Regimes den »Gott der guten Leute« preisen.

Das Publikum auf Marstrand besteht aus vielen Göteborgern und aus einigen Stockholmer Familien. Die Familienväter sind Kaufleute und Fabrikherren – ein paar Grafen, die in die reichen Bürgerfamilien hineingeheiratet haben, laufen so nebenher. Die jungen Männer trinken und segeln gut, und die alten – große, magere, elegante Leute mit weißen Backen oder Yankee-Kinnbärten – trinken und segeln noch besser. Mit fast allen ist der König bekannt, und mit einigen ist er befreundet. Er behandelt sie wie Kameraden und duzt sie.

Am amüsantesten ist es, ihn bei der Reunion zu sehen. Man hat ihm zu Ehren den großen Tanzsaal 215 des Kurhauses mit festlichen Gehängen von grüner, gelber und rosa Gaze und mit Girlanden und Kränzen aus bunten Papierblumen dekoriert. Die billige und naive Dekoration erinnert an das »Feenreich« in den Märchenstücken für artige Kinder. Auf ein Podium an einer der beiden Schmalseiten des Saales hat man ein rotes Plüschsofa und rote Plüschsessel gestellt – für den König und seine Begleiter. Aber dieser König liebt kein Podium – er kommt, wirft schnell den Spazierstock und die betreßte dunkelblaue Kapitänsmütze auf das Sofa und steigt zu seinem tanzenden Volke nieder.

Am letzten Sonnabend war die Reunion besonders glänzend, denn am Tage darauf sollte bei Marstrand die große Segelregatta stattfinden. Der Segelsport ist das Hauptvergnügen der männlichen Göteborger, die alten reichen Kaufherren haben ihre Jachten, die jüngeren und weniger reichen tun sich zusammen und besitzen gemeinsam ein Boot, und wer ein bißchen was ist oder sein will, gehört zum Seglerverein und trägt die Vereinsmütze. All diese Segler waren im Ballsaal. Und sehr viel junge Damen waren aus Göteborg, Särö und von anderen Städten und Inseln gekommen und hatten in großen Pappschachteln Balltoiletten mitgebracht, von denen einige sehr schön waren.

Es wurde ganz vorzüglich getanzt. Nur die schwedische Art, den Walzer hopsend, in Galoppsprüngen zu tanzen, ist nicht besonders hübsch. Der König, der früher viel mitgewalzt hat, tanzt nicht mehr – er geht umher und sagt den Leuten Artigkeiten. Er zieht einen alten Herrn am Ärmel in eine Ecke und beugt sich ritterlich zu einer alten kleinen Dame hinab, die ein 216 lila Seidenkleid trägt, wie die selige Frieb-Blumauer aussieht und ein dringendes Bedürfnis zu haben scheint, dem Fürsten ihr Herz auszuschütten. Aber er hat ein deutliches Faible für die jungen Damen. Er sitzt bald neben der einen und bald neben der anderen. Wenn er aus der Ferne entdeckt, daß neben einem hübschen Mädchen ein Stuhl frei ist, geht er quer durch den Saal zu diesem angenehmen Platz. Und er spielt mit einem großen Charme die Rolle des galanten alten Freundes, der von dem feinsten Vorrecht des Alters Gebrauch macht – von dem Vorrecht, alles zu erfragen und alles zu hören.

Pünktlich um zehn sagt er der Dame, mit der er eben gesprochen, Adieu, steigt zu dem Podium hinauf und nimmt Stock und Mütze vom Sofa. Die Gäste erheben sich, der König geht durch den Saal, bleibt in der Mitte stehen und macht Verbeugungen nach allen Seiten. Aber er kann sich noch nicht trennen – er erblickt eine junge Dame, mit der er noch nicht gesprochen hat und die seit acht Tagen verlobt ist. Er läßt sich noch schnell den Bräutigam vorstellen, kehrt dann wieder in die Mitte des Saales zurück und grüßt wieder nach rechts und nach links. Endlich findet er den Weg zur Tür. Die Zurückgebliebenen tanzen noch eine kleine Stunde lang weiter und gehen dann mit dem heiteren Bewußtsein schlafen, einen sehr netten König zu haben. Es ist für die Könige ziemlich schwer, nicht populär zu sein, denn die Völker besitzen ein außerordentliches Verehrungsbedürfnis und sind leicht befriedigt. Aber dieser Schwedenkönig ist beim Bürgerstande nicht ohne Grund beliebt, denn er schmeichelt seinen Bürgern, indem 217 er ihre Sitten, Interessen und Neigungen zu den seinigen macht. Er zeigt ihnen fortwährend, daß er wirklich nur der »erste Bürger« sein will, und obwohl er schließlich ebensogut von Gottes Gnaden ist wie irgendein anderer, geht er im Leben nicht mit einem Glorienschein, sondern mit einer Kapitänsmütze herum.

Während die weiße Jacht des Königs in dem Wasser zwischen den Inseln liegt, folgt auf Marstrand ein Fest dem anderen. Fast an jedem Abend wird unter irgendeinem Vorwand getanzt, und die Pappschachteln mit den Ballkleidern reisen auf den Dampfern zwischen Göteborg und Marstrand hin und her. Es ist erstaunlich, wieviel Punsch und wieviel Vergnügen die Schweden vertragen können. Sie sind zweifellos eine der unermüdlichsten Nationen der Welt. Der französische Operettenvers »Les Portugais sont toujours gais« scheint mir den Tatsachen nicht ganz zu entsprechen, aber die Schweden sind, wenn sie etwas Geld in der Tasche haben, fast immer lustig. Sie haben sich eine Philosophie der Zufriedenheit zurechtgemacht, sie sind überzeugt oder wollen überzeugt sein, daß niemand Grund hat, sich zu beklagen, und sie nehmen die Dinge nicht tragisch, weil das Leben doch nur eine sehr vorübergehende Erscheinung ist.

Es ist nur fatal, dann in Göteborg die Gestalten der Hafenarbeiter, der Kohlenträger und des ganzen Fabrikproletariats zu erblicken, die aus den Dampferfähren ans Land steigen. Man kann selten wo einen solchen Zug von elenden, siechen, vom Alter und der Arbeit niedergedrückten Menschen sehen, wie gerade hier. Fähre auf Fahre landet Scharen dieser unfroh 218 forthumpelnden Armen aus. Man denkt an die Bilder Goyas, an die Figuren Breughels. Man erinnert sich, daß in diesem Lande der trinkfesten Optimisten noch ein Kampf um das allgemeine Stimmrecht nötig ist, daß die Verfassung hier Licht und Schatten etwas ungleich verteilt. Diejenigen, die auf dem oberen Ende der Bank in der warmen Sonne sitzen, haben ein beneidenswertes Talent, ihr Leben zu genießen. Aber auf dem unteren Ende der Bank ist es ein bißchen kalt. 219

 


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