Heinrich Zschokke
Ein Narr des neunzehnten Jahrhunderts
Heinrich Zschokke

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Der Besuch

Aus allen Erzählungen der Offiziere leuchtete hervor, daß der unglückliche Olivier, nach Verlust seines Verstandes, doch immer ein gutmütiger Narr geblieben sei, und daß wahrscheinlich das deutschtümelnde Wesen, welches vor einigen Jahren Modesucht geworden, ihn etwas über Gebühr ergriffen, oder seinem Wahnsinn wenigstens die Farbe gegeben habe.

Alles das hatte mich sehr erschüttert. Ich konnte lange des Nachts den Schlaf nicht finden. Als ich am andern Morgen erwachte, war es schon spät; aber ich fühlte mich erquickt und gestärkt. Die Welt erschien mir in viel heiterem Licht, als den Abend zuvor, und ich beschloß, meinen bedauernswürdigen Freund in seinem Verbannungsorte zu besuchen.

Nachdem ich noch flüchtig die Sehenswürdigkeiten der Stadt besichtigt hatte, warf ich mich in den Wagen, fuhr bis in die Nacht und folgenden Tages nach Flyeln, in der Nachbarschaft eines Seestädtchens. Das Dorf Flyeln liegt noch zwei Meilen hinter dieser Stadt. Der Postmeister, als er hörte, wohin ich wollte, lächelte und meinte, ich werde wohl eine vergebliche Reise tun. Der Baron lasse sich nicht vor Fremden sehen. Auch erfuhr ich, daß sich sein Gemütszustand nicht gebessert habe, sondern der gute Mensch von der festen Vorstellung behaftet sei, die ganze Welt wäre seit Jahrhunderten närrisch geworden, und die Heilung müsse von Flyeln ausgehen. In diesem Prozeß, da die Welt ihn, und er die Welt für närrisch halte, sondere er sich von allen Menschen ab. Seine Bauern, deren Grundherr er ist, befinden sich übrigens sehr wohl dabei, denn er tut viel für sie. Aber dafür müssen sie seinen Grillen in allen Kleinigkeiten gehorchen, Schifferhosen und lange Jacken mit runden Hüten tragen, sich den Bart lang wachsen lassen, und alle Leute, wenigstens auf Flyelnschem Grund und Boden, sogar ihren Oberherrn duzen. Abgerechnet diese seine Sparre, wäre er der vernünftigste Mann von der Welt.

Ungeachtet der Warnung des Postmeisters machte ich doch den Versuch, und fuhr hinaus gen Flyeln. Was lag mir doch daran, zwei Meilen vergeblich zu fahren, nachdem ich, Oliviers willen, mich so weit vorgeabenteuert hatte? Und ich fand keine Ursache zur Furcht, von ihm abgewiesen zu werden, weil er nicht am Gedächtnis gelitten. Es war freilich ein erbärmlicher, selten befahrner Weg, der bald durch tiefen Sand, bald durch ausgetretene Bäche und versumpften Boden, bald durch Kieferngestrüpp fortzog, und meinem Wagen ein paar Male den Umsturz drohte. Eine Stunde von Flyeln aber erhob sich das Land, und eine schöne breite Fahrstraße, auf beiden Seiten mit Obstbäumen bepflanzt, verkündete die Nähe eines reichen Gutsbesitzers. Die Felder standen in der weiten Ebene trefflich gebaut; rechts dehnte sich in der Ferne ein hoher Eichenforst mit dunkelm Grün, wie ein ungeheurer Kranz; links das unendliche Meer; ein wallender weiter Spiegel, der mit den glänzenden Wolken am Rand des Gesichtskreises zusammenrann. Flyeln, das Dorf, zeigte sich zwischen Fruchtbäumen, Weiden und Pappeln vor mir; seitwärts erhob sich ein großes, altertümliches Gebäude, das Schloß, wie aus einem Wald von wilden Kastanien hervorsteigend. Abwärts, dem Meere näher, lag das Dorf Niederflyeln, ebenfalls zu Oliviers Herrschaft gehörig, malerisch an schroffe Felsen gelehnt, die zuletzt, als umbüschte Klippen, wie kleine Inseln weit ins Meer hinaus gingen. Einige Fischerboote, mit Segeln, schwärmten um die Gestade; auf der Höhe des Meers erblickte man ein reisendes Schiff, die weißen Möwen flatterten scharenweise in den Lüften.

Je näher ich dem Dorf und dem Schlosse kam, je malerischer und freundlicher ward mir die Umgebung. Es lag in ihr der eigentümliche Reiz jeder Seegegend, welcher aus der Paarung des Ländlich-Anmutigen mit der Majestät des unübersehbaren Ozeans, des Geborgenen und Friedlichen einfacher Hütten mit dem weiten stürmischen Leben des tückischen Elementes erwächst. In jedem Fall ist der Verbannungsort meines Freundes reizend genug, daß man dafür ohne Gram die Freiheit, in lärmerischen Städten zu wohnen, aufopfern kann.

Sowohl auf den Feldern als in einigen Gärten sah ich schon die angekündeten »Flyeler Bärte«. Auch der Wirt, vor dessen Schenke ich hielt und abstieg, war reichlich geschmückt mit Haarwuchs um Kinn und Mund. Er erwiderte meinen Gruß freundlich, und schien dabei doch über meine Ankunft verwundert. »Willst du etwa den Gutsherrn besuchen?« fragte er mich höflich. Ich ließ das etwas auffallende Du lächelnd durchgehen und bejahte es. »So bitt' ich um deinen Namen, Stand und Wohnort. Das muß dem Herrn Olivier gemeldet werden. Er nimmt ungern Reisende an.«

»Aber mich nimmt er gewiß an. Laß Er seinem Herrn nur melden, es wünsche ihn einer seiner ältesten und besten Freunde im Vorbeireisen auf ein paar Stunden zu sehen. Mehr lasse Er ihm nicht sagen.«

»Wie du willst«, erwiderte der Wirt, »aber ich kann dir die abschlägige Antwort voraussagen.«

Während der Wirt einen Boten suchte, ging ich langsam durchs Dorf in geradester Richtung gegen das Schloß, zu dem mich ein Fußweg hinzuleiten schien, der zwischen Häusern und Baumgärten lief. Er führte mich aber irre zu einem Gebäude, das ich für ein Waschhaus hielt. Seitwärts, jenseits einer Wiese, floß ein ziemlich breiter Bach, hinter welchem sich die hohen dunkeln Wildkastanien des altertümlichen Stammhauses der Freiherren von Flyeln schattig erhoben. Ich beschloß das Wagstück, mich bei Olivier unangemeldet einzuführen. Ich hatte dem Wirt absichtlich meinen Namen verschwiegen, um, wenn mich Olivier vor sich ließe, zu sehen, ob er mich erkennen würde? Ich ging über die Wiese, fand nach langem Suchen weiter abwärts über den Bach Steg und Weg, die mich zwischen Buschwerke gegen die Wildkastanien zurückführten. Diese beschatteten einen geräumigen, mit grünem Rasen bedeckten runden Platz neben dem Schlosse. Ringsum zog sich im Innern ein breiter mit Sand bedeckter Weg, links und rechts standen artige Ruhebänke unter den breiten Zweigen der Bäume, und auf einer der Bänke saß, ich war nicht wenig überrascht, Olivier. Er las in einem Buche. Zu seinen Füßen spielte ein dreijähriges Kind im Grase. Neben ihm saß ein bildschönes Frauenzimmer, mit einem Säugling an der Brust. Die Gruppe hatte etwas Wunderbarliches. Ich stand still, halb noch vom Gesträuch verdeckt. Keiner sah nach mir auf. Meine Augen hingen nur an dem guten Olivier. Selbst der schwarze Bart, der sich ihm um Kinn und Lippen kräuselte, und durch den Backenbart mit den finstern Locken seines Hauptes zusammenhing, stand ihm schön. Seine übrige Tracht hatte etwas Eigenes und doch nicht gar Befremdendes. Auf dem Kopfe trug er eine Art Barett mit Vorschirm gegen die Sonne; die Brust offen, mit weit überlegtem Hemdkragen; eine grüne weite Jacke, vorn übereinander geknöpft, mit bis gegen das Knie reichenden vorn ganz zusammengehenden Schößen; weite weiße Matrosenhosen; Halbstiefeln. Es war ungefähr dieselbe Tracht, welche ich an den Bauern gesehen hatte, nur die seine feinern Stoffs und geschmackvoller. Seine Miene war ruhig und nachdenkend. Auch als Mann, der den Vierzigern entgegen ging, konnte er noch schön heißen. Sein Bart gab ihm ein heldenartiges Wesen und Ansehen. Es kam mir vor, als sähe ich eine herrliche Gestalt aus dem Mittelalter.

Indem trat der Bote meines Schenkwirtes vom Schlosse in den Kreis der Bäume. Der junge Bursch zog den kleinen Rundfilz ab, und sagte: »Herr, es wünscht dich ein Fremder auf der Durchreise zu sprechen. Er sagt, er sei einer der ältesten und besten Freunde.«

Olivier sah auf und fragte: »Durchreise? Ist er zu Fuß?«

»Nein, er kam mit der Post.«

»Wie heißt er? Woher ist er?«

»Das will er nicht sagen.«

»Er soll mich ruhig lassen. Ich will ihn nicht sehen!« rief Olivier, und machte dem Jüngling eine Bewegung mit der Hand, sich fortzubegeben.

»Aber du mußt mich doch sehen, Olivier!« rief ich, und trat hervor und verneigte mich mit einer Entschuldigung gegen das Frauenzimmer. Er, ohne sich zu bewegen, ohne meinen Gruß zu erwidern, drehte verdrießlich den Kopf nach mir, musterte mich eine Weile mit scharfem Blick, ward ernster, legte das Buch weg, trat näher gegen mich vor, und sagte: »Mit wem habe ich zu sprechen?«

»Wie, Achilles erkennt seinen Patroklus nicht mehr?« entgegnete ich ihm.

»O Popoi!« fuhr er hochbestürzt auf, indem er die Arme auseinander breitete: »Sei willkommen, mein edler Patroklus im französischen Frack und gepuderten Haar!« – Damit lag er an meiner Brust. Trotz seiner sarkastischen Anrede wurden er und ich bewegt und zu Tränen weich. In dieser Umarmung verschwand ein Gedächtnis von zwanzig Jahren. Wir atmeten wieder wie an den Ufern der Leine, wie zu Bovenden, Norten und auf den Schloßtrümmern von Gleichen.

Darauf führte er mich mit freudeleuchtenden Augen zu der reizenden, jungen Mutter, die verschämt errötete, und sagte zu ihr: »Sieh, dies ist Norbert, du kennst ihn ja aus mancher meiner Erzählungen!« – und zu mir: »Das ist mein liebes Weib.«

Sie lächelte mich mit einem wahrhaften Engelslächeln unter ihren Locken an, und sagte mit einer Miene und einer Stimme, in der noch unendlich mehr Güte lag, als in ihrem Worte: »Edler Freund meines Oliviers, sei mir recht sehr willkommen. Ich habe lange schon das Vergnügen deiner persönlichen Bekanntschaft gewünscht.«

Ich wollte etwas Verbindliches erwidern, aber ich gestehe, das überraschende trauliche Du, welches mir Unbekannten von so lieblichen Lippen und so unbefangen hingesprochen, entgegenklang, stieß mich einen Augenblick lang aus aller Fassung.

»Meine Gnädige«, stammelte ich endlich: »ich habe mit dem Umweg von mehr denn zwanzig Meilen das Glück nicht zu teuer erkauft, Sie und Ihren Herrn Gemahl, meinen ältesten Freund – – –«

»Holla, Norbert!« unterbrach mich Olivier lachend: »Nur gleich beim Anfang, ein vorläufiges Wort, eine Bitte: nenne meine Frau, wie du deinen Gott nennst, einfach Du. Störe die schlichten Sitten von Flyeln nicht mit den Schnörkeln deutscher Zeremonien- und Komplimentenmeister; das gäbe unleidlichen Mißklang in unsern Ohren. Bilde dir jetzt ein, du seiest von Deutschland und Europa zweitausend Meilen weit geschieden, und lebtest wieder in einer ganz natürlichen Welt, etwa, wenn du willst, im Zeitalter des vielweisen Odysseus.«

»Also, Olivier«, sagte ich, »und du begreifst es, mit einer so liebenswürdigen Frau Du und Du sein, läßt man sich nicht zweimal bitten: also Frau Baronin, Du – – –«

»Noch einmal halt!« rief Olivier lautlachend dazwischen. »Deine Baronin steht zum Du, wie dein französischer Frack und der rasierte Bart zum Patroklusnamen. Meine Bauern sind nicht mehr Leibeigene, sondern Freiherren; ich und meine Frau sind aber nicht und nicht minder Baronen, als es meine Bauern sind. Nenne meine Amalia, wie sie hier Jeder nennt, Mutter – der edelste Name des Weibes –, oder Frau.«

»Es scheint«, versetzte ich, »ihr lieben Leute habt hier mitten im Königreiche eine neue Republik gegründet und allen Adel abgeschafft.«

»Richtig, allen, bis auf den Adel der Gesinnungen!« antwortete Olivier. »Und daraus siehst du, wir sind hier zu Lande noch unendlich aristokratischer, als ihr in euerm Deutschland. Denn bei euch dort trägt der Gemütsadel wahrhaftig wenig ein, und der Geburtsadel sinkt auch in den Kot, wohin er von rechtswegen gehört.«

»Um Verzeihung, du bist etwas jakobinisch gelaunt!« entgegnete ich. »Wer sagt dir, daß der Geburtsadel bei uns in der öffentlichen Meinung fällt?«

»O Popoi!« rief er: »muß ich denn dich noch belehren! Ich kannte vor Jahren noch einen armen, lumpigen Juden, den eure frommen Christen lieber ungeboren als geboren gesehen hätten. Er schacherte sich aber so viel zusammen, daß er bald Briefe von der Post mit dem Prädikat Edelgeboren erhielt. Nach einigen Jahren war er ein reicher Mann; und die höflichen Deutschen begriffen sogleich, daß der Mann von äußerst guter Geburt sein müsse. Alles schrieb ihm von da an sogleich als einem Wohlgebornen Herrn Bankier. Der Bankier half aber mit seinen Dukaten Finanzministern und völkerbeglückenden Kriegsministern aus der Geldklemme. Auf der Stelle ward der nützliche Millionär ein Hochwohlgeborner Herr Baron von und zu. – Diese Aufklärung der Deutschen, dieser Spott mit dem Adelwesen führt in wenigen Jahrzehnten weiter als du glaubst. Ich hoffe aber, ist der Geburtsadel bei euch null, wird der Gemütsadel sich wieder gültig machen.«

Die Baronin, um ihren Säugling in Ruhe zu bringen und mein Zimmer zu ordnen, verließ uns mit den Kindern. Olivier führte mich durch seinen Garten, dessen Beete mit den schönsten Blumen gefüllt waren. Um einen Springbrunnen standen auf hohen Sockeln von schwarzem Gestein weiße marmorne Brustbilder mit goldenen Unterschriften. Ich las da: Sokrates, Cincinnatus, Columbus, Luther, Bartholomeo des las Casas, Rousseau, Franklin, Peter der Große.

»Ich sehe, du liebst noch gute Gesellschaft!« sagte ich: »Kann man unter den Lebendigen Liebenswürdigere finden, als dein niedliches Weib mit den beiden Amoretten, und unter den Toten Ehrwürdigere, als diese da?«

»Hast du an meinem guten Geschmack gezweifelt?« antwortete Olivier.

»Das eben nicht; aber, Olivier, du ziehst dich doch, höre ich, von aller Welt sonst zurück!« versetzt' ich.

»Eben weil ich nur gute Gesellschaft liebe, die nirgend weniger in Europa daheim ist, als in der Gesellschaft von gutem Ton.«

»Doch wirst du zugeben, lieber Olivier, daß auch außer Flyeln noch gute Gesellschaft möglich sei.«

»Allerdings, Norbert, nur möchte ich keine Jahre und Geldsummen verschwenden, um sie zu suchen. Laß uns davon abbrechen. Ihr Europäer seid von der heiligen Einfalt der Natur, wie im Wichtigsten, so im Geringsten, so ungeheuer abgewichen, seit Jahrtausenden zu solchen verkünstelten Tieren verartet, daß euch die Unnatur zur vollen Natur geworden ist, und ihr einen schlichten Menschen gar nicht mehr versteht. Ihr seid Zerrbilder des menschlichen Geschlechts geworden, von außen und von innen, daß einem gesunden Wesen mitten unter euch grauen muß. Nein, du ehrlicher Norbert, brechen wir davon ab. Du würdest mich gar nicht verstehen, wenn ich redete. Ich schätze dich, ich liebe dich, ich bedaure dich.«

»Bedauern? Warum das?«

»Weil du unter Narren lebst, und wider dein Wissen mit Narr sein mußt.«

Mit diesen Worten Oliviers merkte ich, daß er zu seiner fixen Idee überging. Es ward mir sehr unheimlich bei ihm. Ich wollte ihn auf andere Gegenstände leiten, sah ängstlich umher, und fing an, da mir eben sein Bart wieder auffiel, seinen Bart zu loben, und wie er ihm so wohl stehe.«Seit wann läßt du ihn wachsen?« fragte ich.

»Seit ich zur Vernunft zurückkehrte, und den Mut hatte, vernünftig zu sein. – Gefällt er dir also wirklich, Norbert? Warum trägst du ihn nicht auch?«

Ich zuckte die Achseln und sagte: »Wenn's allgemeine Sitte wäre, ich trüge ihn mit Freuden.«

»Da haben wir's! Weil also die Narrheit Sitte ist, die Natur mit dem Barbiermesser auch am Kinn des Mannes mit Stumpf und Stiel auszurotten, hast du nicht einmal den Mut, auch nur in dieser Kleinigkeit vernünftig zu sein. Diesen Schmuck des Mannes gab Mutter Natur so wenig vergebens, als die Locken des Hauptes. Aber der Mensch in seinem Wahnsinn bildete sich ein, weiser als der Schöpfer zu sein, und schmierte sich Seife ums Kinn, und glättete es mit dem Messer. So lange die Nationen nicht ganz von der Natur abgefallen waren, behielten sie noch den Bart bei. Trotz dem, daß ihn noch Christus und die Apostel trugen, erklärte ihn erst Papst Gregor VII in den Bann. Und doch behielten ihn die Geistlichen am längsten bei, wie heut noch die Kapuziner. Aber als alte Gecken begannen, sich ihres grauen Haares zu schämen, fingen sie an, es am Kinn zu vertilgen und auf dem Kopf unter Perücken zu verstecken. Weil man sich gegenseitig in Allem zu belügen gewohnt war, suchte man sich auch um das Alter zu belügen. Greise hüpften mit blonden Haupthaaren und glattem Kinn, wie weibische Jünglinge, und das machte auch ihre Gemütsart weibischer. Und alle andern folgten, weil sie zur Wahrheit keinen Mut hatten. Stelle mir neben die Heldengestalt eines Achilles, Alexander oder Julius Cäsar einen unserer heutigen Generalfeldmarschall-Lieutenants in ihrer geschmacklosen Uniform; einen unserer Elegants mit dickem Halstuch und Zierbengel im Tanzmeister-Schritt neben einen Antinous; dich, Herr Geheimerat von Norbert, neben einen Senator des alten Griechenlands oder Roms, muß man da nicht über unsere Karikaturen aus vollem Halse lachen?« –

»Du hast Recht, Olivier!« sagte ich verlegen, »und wer wird leugnen, daß die altrömische oder griechische Tracht edler, als die unsrige sei? Allein bei uns im Norden, wir Europäer, immer der fest anschließenden Kleider gewohnt und bedürftig, würden uns bei dem malerischen Faltenwurf der Orientalen und Südländer etwas unbehaglich fühlen.«

»Sieh mich an, Norbert!« sagte Olivier lächelnd, stellte sich vor mich hin, drückte das Barett auf seinem Kopf ein wenig seitwärts, stemmte keck die linke Hand auf seine Hüfte und sagte: »Ich, Nordländer, in meiner anschließenden, bequemen und einfachen Tracht, würd' ich neben einem altrömischen Bürger so gar übel stehen? Warum gefällt uns noch immer die spanische, italienische und deutsche Tracht des Mittelalters? Weil sie, obwohl nordisch, schön ist. Ein österreichischer Reiter im Helm, selbst der Husar, wurden heut noch dem Blick Julius Cäsars gefallen. Warum, ihr andern steifen Herren, folget ihr nicht dem Bessern nach, wie unsere Frauenzimmer schon begonnen haben, seit sie die Schleppen und gepuderten Toupés ablegten? Würdet ihr euch einmal schämen, von außen Karikaturen zu sein, vielleicht würdet ihr dann auch von innen aufs Natürlichere kommen. Es liegt etwas Wahres in dem Sprichwort: Kleider machen Leute. Und ich sage dir, Norbert, meine Amalia hat mich hübscher gefunden, seit ich den Bartwuchs nur leicht mit der Schere mir stutzte, aber nicht vertilgte; ja, ich glaube, es ist seitdem in ihrer Zuneigung etwas Inbrünstigeres erregt, seit sie ihre Wange nicht mehr an ein glattes Weibergesicht, sondern an das männliche lehnt. Denn das Weib will den männlichen Mann!«

Indem Olivier so sprach, war er ganz Feuer. Er stand in der Tat da vor mir, wie ein kräftiges Heldengebilde aus frühern Jahrhunderten, wie aus einem alten Gemälde lebendig hervorgegangen, wie einer aus einer Welt, die nicht mehr unsere Welt ist, und die wir nur bewundern, aber nicht wieder herstellen können.

»Wahrhaftig, du könntest mich«, sagte ich zu ihm, »zum ehrlichen Bart bekehren, und ich gewänne dabei noch, daß ich allwöchentlich dreimal der Folter des Bartscherers entginge.«

»Freund«, rief Olivier lachend, »dabei könnte es nicht bleiben! Der Bart zieht viel anderes nach sich. Denke dir deine Figur im krausen Bart, und dazu den dreieckigten Schnabelhut auf dem Kopf, wie ein Jude; das gepuderte Haupt mit dem Rattenschwänzlein im Nacken; und den französischen Frack mit lächerlichen Rockschößen, die dir hinten wie ein Bachstelzen- oder Schwalbenschwanz stehen. Fort mit den Narrheiten! Kleide dich bescheiden, schamhaft, warm, bequem, aber geschmackvoll, daß es auch dem Auge wohl tut, und die erhabene Menschengestalt nicht verzerre. Alles Zwecklose verbanne! Eben das Zwecklose ist das Unvernünftige, eben das Unvernünftige ist das Unnatürliche!«

Als wir noch über diesen Gegenstand unsern Wortwechsel fortsetzten, ließ uns die Baronin durch einen Diener zum Mittagessen rufen. Ich ging neben Olivier schweigend hin, und hatte den Kopf voller Gedanken, die ich leider nicht aussprechen durfte. Es war mir ganz wunderlich zu Mut, und ich mußte den Baron ein paarmal seitwärts ansehen. In meinem Leben war mir's nicht geworden, einen Narren so philosophieren zu hören. Ich war auch gar nicht im Stande gewesen, seinen Bemerkungen über die europäische Kleidertracht gründliche Einwendungen entgegenzustellen. Was er sagte, schien mir richtig und wahr. Hier ließ sich mit Recht anwenden: Kinder und Narren reden die Wahrheit.


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