Heinrich Zschokke
Ein Narr des neunzehnten Jahrhunderts
Heinrich Zschokke

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Das Gespräch auf der Höhe von Flyeln

So erzählte Olivier.

Ich berge es nicht, alles, was er mir gesagt hatte, alles, was ich in Flyeln gesehen hatte, machte großen Eindruck auf mich. Ich bewunderte seinen Starkmut, seinen wohltätigen Schöpfergeist, und bemitleidete sein Los, in solchem Grade verkannt zu werden, als er es war.

Es gehörte gar nicht die Überredungsgabe meines Freundes, gar nicht die zauberische Schmeichelei in den Bitten der schönen Baronin dazu, um mich zur Verlängerung meines Aufenthalts in dieser herrlichen Oase zu bewegen. Ja, ich muß dies Flyeln eine Oase nennen, eine blühende Insel in den Wüsten der umliegenden Gegenden. Denn hier, sobald man diesen Boden betritt, wenn man aus den teils sandigen, teils versumpften Landschaften der Umgebung, aus den weiten verwilderten Kieferwäldern, aus den ärmlichen, kotigen, unordentlichen Dörfern voller Baracken und verwahrloseter Menschen tritt, wird der Boden plötzlich grüner, der Mensch plötzlich menschlicher. Auch hier waren Baracken gewesen, und sie sind saubere Hütten geworden, in denen ich mit Vergnügen am Arm der Baronin Besuche machte; auch hier waren Moräste gewesen; man erkennt sie nur noch an den langen Gräben und unterirdischen, mit Steinen gefüllten, mit Erde überdeckten Wasserabzügen; auch hier waren Sklaven gewesen, die vor dem Oberherrn und noch mehr vor seinen Beamten zitterten und hinterrücks beide zu betrügen gewohnt waren; jetzt aber haben sie die aufrechte, kecke Stellung freier Menschen, sie sehen im Baron ihres Gleichen – aber mit welcher kindlichen Ehrfurcht und Liebe umringen sie jetzt ihn und die Seinigen! – Diese Umschaffungen im Zeitraum eines halben Jahrzehnts wären einem Wunder ähnlich, wenn man nicht wüßte, wie klug und fest Olivier dabei zu Werke ging, wie er nur sehr langsam aus der Rolle des gebieterischen Leibherrn zu der des Lehrers, dann des Vaters überging; wie er seine Bauern, hinter welche er die Furcht der Strafen als Treiber stellte, vorwärts lockte und kirrte durch ihren groben Eigennutz; wie er nie auf ihre Erkenntlichkeit, nie auf ihren öden Verstand, nie auf ihr sittliches oder religiöses Gefühl rechnete, sondern sie anfangs mehr bloß abrichtete, als unterrichtete, und dann auf die Stärke mehrjähriger, gewohnter Einübung zum Bessern hoffte und auf die nachwachsende Jugend. Daher übernahmen er und die Baronin, der Pfarrer und Schullehrer die Unterweisung Aller; daher kam es auch, daß die Beisitzer des Gerichts, daß die Vorsteher der Gemeinden meistens junge Leute von fünfundzwanzig bis dreißig Jahren waren; wenigstens erblickte ich keinen der alten Bauern unter ihnen.

Doch alles das gehört hierher nicht. Ich will ja nur das Los meines Freundes erzählen, nicht die Art und Weise, wie er seine Untertanen entwilderte oder seine unwirtbaren Schollen blühend machte.

Als mir Olivier seine Haushaltungsbücher vorwies und unwiderleglich zeigte, daß er, weit entfernt bei den vorgenommenen Änderungen an Einkünften zu verlieren, mehr gewinne, als sein verstorbener Oheim und jeder seiner Vorfahren bezogen hatte, warf er lächelnd das Wort hin: »Nun siehst du, Norbert, wo die Narrheit zu Hause ist, ob in Flyeln oder in der königlichen Residenz? Weil ich gewinne, werde ich als Verschwender behandelt, und muß jährlich fremden Menschen, die man mir zur Untersuchung meiner Rechnungen schickt, Blicke in das Innerste meines Hauswesens erlauben.«

» – Warum beklagst du dich nicht darüber? Es ist Ungerechtigkeit, es ist Gewalttat.«

»Meine Beschwerden würden eitel sein. Kein Gericht, sondern kurzweg ein Kabinettsbefehl, vom Ministerium ausgegangen, verdammte mich zu diesem Verhältnis. Die Sache ist nicht leicht abzustellen. Denn das Ministerium wird keinen Rückschritt tun wollen, weil es sich durch solchen selber fehlbar erklären müßte. Die jährlich kommende Untersuchungskommission wird dazu nicht raten, weil sie sonst das Vergnügen einer Lustreise und den Gewinn von Taggeldern, auf meine Kosten gezahlt, verlöre. Daß man mich hier auf das Gut meiner Vorfahren wie einen Gefangenen eingebannt, ist noch das Erträglichste. – Jetzt, Norbert, ehrlich, wie denkst du von Allem?«

» – Ich gestehe dir, Olivier, ich kam mit Vorurteil und Trauer zu dir; ich werde dich mit den angenehmsten Erinnerungen verlassen. Man hat dich überall für einen Wahnsinnigen ausgegeben. Der bist du nicht, sondern ich stimme deinem ehemaligen Administrator bei: du bist nur ein edler, wunderlicher Sonderling.«

»Sonderling? Nun ja, es ist der rechte Name für diejenigen, welche sich von dem Schlendrian und Unwesen ihres Zeitalters absondern. Diogenes von Sinope galt auch für einen Toren; Cato, der Censor bei den Römern, für einen Pedanten; Colomb ward auf den Straßen Madrids als Narr betrachtet; Olavides der Inquisition übergeben; Rousseau von den Bernern aus seinem Asyl verstoßen, so wie Pestalozzi anfangs von vielen seiner Landsleute zu den Halbnarren gezählt ward, weil er mit Bettlern und räudigen Kindern lieber, als mit der gepuderten Haarbeutelwelt umging. Und daß ihr mich einen Sonderling heißet, mich, der ich doch nur mein von Gott empfangenes Recht, vernünftig und naturgemäß zu denken, zu sprechen und zu handeln, nichts anderes, gültig mache, – ist das nicht ein herber Vorwurf gegen euch selbst?«

» – Nein, Olivier, kein Vorwurf, weder gegen die Welt, noch gegen dich. Niemand wehrt dir, vernünftig und natürlich zu denken und zu handeln; aber schone auch du die Rechte Anderer, nach ihren gegenwärtigen Begriffen, Gewohnheiten und selbst nach ihren Vorurteilen zu denken, zu sprechen, zu handeln, bis sie oder ihre Kinder einst weiser sind. Nicht alle Menschen können Philosophen sein.«

»Habe ich ihrer nicht geschont? Habe ich sie angegriffen?«

» – Allerdings, Freund, wenn du mir es zu sagen erlaubst. Indem du deine Sitten den allgemeinen Sitten zu grell gegenüberstelltest, brachst du den Frieden mit denen, unter welchen du lebtest, und wirktest du die Hälfte des Guten, was du wirken konntest, ja nicht einmal die Hälfte. Christus nahm Judäa's Sitte an, ließ sich herab zu Judäa's Vorurteilen, um mächtiger zu wirken. Was liegt am Ende an einer lächerlichen Mode, was daran, ob man den steifen Zopf oder das abgeschnittene Haar, den Bart oder das glatte Kinn trägt? Du kennst die Bedeutung des Sie im Deutschen, des Vous im Französischen. Nun ja, ich gebe zu, es sei töricht, eine Person in der mehrern Zahl anzureden. Aber was schadet diese Übung zuletzt? Redeten nicht auch Griechen und Römer von sich in der mehrern Zahl? Du kennst die Bedeutung des Sie im Deutschen und des Du. Warst du nun nicht angreifender Teil, wenn du dich über die herrschenden unschuldigen Übungen wegsetztest, und ohne Unterschied gegen die bisherigen Begriffe vom Anständigen, das Du jedem aufdrängst? Wer sich der Welt gegenüber stellt, dem steht sie gegenüber. Konntest du dich darüber wundern?«

»Ich wundere mich keineswegs, weil ich das erwartete. Führe mir nicht das Beispiel von Christus an, nach Weise derer, die alle ihre Trägheit und Schalkheit mit frommer Miene hinter verdrehten Schriftstellen der Bibel verstecken. Der Göttliche hatte mit seinen Zeitgenossen Höheres abzutun, als ich, darum schwieg er zu den mindern Torheiten; ich aber habe es mit diesen allein zu tun, und will wenigstens mich nicht zwingen lassen, Barbareien zu loben, zu entschuldigen, oder gar mitzumachen. So viel Recht wird dem Menschen auf Erden doch wohl noch unter Menschen gestattet sein, daß er Gebrauch von seinem schlichten Verstande mache?«

» – Freund, wie mir es scheint, hat man dir dies Recht nicht streitig machen wollen; wohl aber das Recht, durch unbehutsame Mitteilung deiner Überzeugungen, zumal wenn sie im offenen Streit mit noch bestehenden Ordnungen sind, gefährliche Verwirrungen zu veranlassen. Du selbst hast anfangs in Flyeln bei deinen Leibeigenen den gestrengen Grundherrn gespielt, hast sie nur nach und nach, je nachdem sie vorbereitet waren, zur Freiheit eingeführt, nicht jählings. Du wußtest wohl, daß es verderbenvoll sein würde, Kindern in die ungeübte Hand ein Messer zu legen, das in geübten Händen das nützlichste Werkzeug ist. Was würdest du gesagt haben, wenn einer deiner Leibeigenen plötzlich seinen Genossen die Sprache der Wahrheit von den ewigen Grundrechten der Menschheit, von der Barbarei und Ruchlosigkeit des Feudalwesens, von der natürlichen Gleichheit der Menschen geführt hätte? Würde dieser Reformator nicht alle deine edeln Entwürfe zerrissen haben?«

»Allerdings, Norbert. Aber ich hoffe, das Beispiel geht nicht mich und mein Tun an. Ich habe nie gegen bestehende Ordnungen geredet, auch wenn sie schlecht waren, sondern ich gab Gott, was Gottes ist, und dem Kaiser, was des Kaisers ist. Ich redete nur gegen bestehende Mißbräuche und Vorurteile, die nicht einmal durch bürgerliche oder Staatsverträge geheiligt sind. Gegen euer Undeutsch, gegen eure Maskeraden und heuchlerischen Komplimente, gegen euern naturwidrigen Luxus, gegen eure weibischen, hölzernen Verunstaltungen durch die welschen Moden, gegen eure Begriffe von Ehre und Schande, von Verdienst und Belohnung habe ich geredet, und nur verteidigungsweise für meine Person, wenn ihr Europäer mich nötigen wolltet, meine Rückkehr zur Vernunft zu verdammen, und mich zwingen wolltet, eurer Verkehrtheit zu gefallen, von der Natur wieder abtrünnig zu werden.«

» – Aber, Freund Olivier, deine Urteile über stehende Heere, über den Geburtsadel, über die unterdrückten Rechte der Nationen, über...«

»O Popoi, Freund Norbert! diese Sätze sind gottlob in Europa, als tote Wahrheiten, allgemein anerkannt. Man nennt sie in Thesi und in Theorien richtig, in Praxis irrig, und zwar aus triftigen Gründen. Ich habe nichts dagegen. Ich selbst, wäre ich Fürst oder Minister, würde mich wohl hüten, ehe ich ein philosophisches Volk hätte, Plato's Republik zu organisieren. Allein ich habe diese Sätze unter Freunden, unter meines Gleichen ausgesprochen, nicht sie dem Pöbel, zur Empörung, gepredigt. Ich tat, was heute Millionen in Schrift und mündlichem Wort tun. Ihr mußtet der halben Bevölkerung Europens den Kopf abschlagen, wenn ihr nicht wolltet, daß solche Sachen gedacht und gesprochen würden. Eben daß man sie in einer Hälfte des Volks denkt und spricht, dadurch allein dringen sie auch in die andere Hälfte über. Und ist einmal die Mehrheit der Menschheit des Bessern überzeugt, dann macht sich Alles leicht von selbst, ohne Staatsumwälzungen und Blutbäder, durch den natürlichen Gang in verbesserter Gesetzgebung. Wahrlich, nicht deswegen hielt man mich für wahnsinnig, lieber Norbert, nicht deswegen bannte man mich von der übrigen Welt aus. Niemand hätte etwas dagegen gehabt, wenn ich Baron gegen die Ungerechtigkeit, Barbarei, Torheit und Schädlichkeit deklamiert haben würde, welche mit dem Institut des bevorrechteten Erbadels verbunden sind; Niemand hätte etwas dagegen gehabt, wenn ich bei meinen Deklamationen eine Gräfin oder Baronin geheiratet haben würde. Es treibens Viele so. Aber daß ich folgerecht handelte, obgleich Niemand damit beschädigt wurde; daß ich die Liebe eines schönen und tugendhaften Mädchens dem Vorurteil meiner ahnenstolzen Sippschaft vorzog; daß ich Baron ein von der Landstraße weggenommenes Bettelkind, ja ein uneheliches Kind zur Gemahlin wählte – das war ein Verbrechen. Norbert, sieh' Malchen noch einmal an, – dann tritt vor meinen pergamentenen Stammbaum – und dann verdamme mich.«

» – Mit solchen Dokumenten für dein Recht, lieber Olivier, bist du freilich ein furchtbarer Advokat. Ich denke aber, der Adel hätte dir am Ende diese Sünde gegen seinen Stand wohl hingehen lassen, und dich allenfalls als eine Ausnahme von der Regel betrachtet. – Du weißt, man denkt heutiges Tages in solchen Dingen schon viel duldsamer; der Adel ist nicht mehr wie...«

»Das glaubst du? O mein Freund, betrüge dich nicht über unsere Kaste, in der nicht nur die Physiognomien, und nicht nur die Vorrechte, sondern auch die Begriffe und Vorurteile erblich und durch die Vererbung in so vielen Generationen unausrottbar geworden sind. Der Adel hat die eigentlich fixe Idee, von Geburt aus, bessern Teiges zu sein, als die übrige Menschheit. Und wenn er schon der Gewalt der Revolutionen unterliegen muß: seine fixe Idee bleibt oben an. Sahst du nicht den ausgewanderten Adel Frankreichs im Elend? Seinen Dünkel verlor er nicht, auch da er seine eigenen Schuhe flicken und seine Hemden selbst waschen mußte. Siehe die jungen im Elend gebornen oder erzogenen französischen Edelleute jetzt in Frankreich wieder. Was treiben sie? Statt mit ihrem Schicksal ausgesöhnt zu sein, klagen sie, weil sie mit Leuten von bürgerlicher Abkunft so viele, ja alle Rechte teilen sollen. Dafür arbeiten sie wider die Charte, bis keine Charte mehr ist, und eine neue Revolution sie abermals ausstößt.«

» – Hier, mein lieber Advokat, lässest du dich auf einer Schwäche ertappen, die ich zu benutzen viel zu großmütig bin. Was beweisen Menschen jenes Landes für oder wider Menschen unsers Landes? Wer würde aus den Begriffen der indianischen Häuptlinge mit ihren knöchernen Naseringen eine Anklage gegen unsern hiesigen Adel machen wollen? – Lassen wir das. Aber versteh' mich wohl. Ich möchte dich mit der übrigen Welt aussöhnen. Ein kleines Opfer von dir, eine geringe Nachgiebigkeit in unbedeutenden Äußerlichkeiten: und, glaube es mir, man wird dir alle deine Meinungen, selbst deine Paradoxien verzeihen. Und wir sind schuldig, Opfer zu bringen. Nur dadurch erkaufen wir Vertrauen. Und nur im Besitz des öffentlichen Vertrauens können wir öffentlich wirken. –«

»Du verlangst ein kleines Opfer von mir, Norbert. Ich kenne es schon. Du forderst, als Kleinigkeiten, nichts weniger, denn mich selbst mit allen meinen Überzeugungen, Grundsätzen und daraus hervorgehenden Pflichten zu opfern. Aber wenn ich nun meine Überzeugungen und Grundsätze aufgeopfert habe, das heißt, mein ganzes Wesen: was tauge ich denn noch in der Welt? Womit soll ich dann Gutes wirken?«

» – Noch mit Vielem! Siehe andere weise Männer, sie stiften, ohne mit der Welt zu zerfallen, unsägliches Gute. Warum könntest du es nicht? Was kannst du, selbst durch dein bloßes Beispiel, und du allein stehend, wirken, wenn dich, wie jetzt geschieht, alle deine Umgebungen verkennen und glauben, du habest am Verstande Schaden genommen? –«

»Die Frage verdient eine Antwort, denn sie ist von allen deinen Fragen die wichtigste. Zuerst denke meines Befugnisses, als Mensch, daß ich, wenigstens in meinem Hause, auf meinem Boden, gemäß meinen bessern Überzeugungen, essen, trinken, mich kleiden, reden und handeln dürfe, wenn ich damit nur keine fremden Rechte verletze. Da ich nun die Albernheiten und Abgeschmacktheiten, Künsteleien, Unnatürlichkeiten und Verzerrungen der jetzigen europäischen Menschheit, wie sie sich eben aus dem Schlamm der Barbarei hervorwindet, lächerlich, schädlich, unnatürlich, verächtlich finde, soll ich, mit aller Neigung und allem Beruf und aller Pflicht zum Wahren und Gerechten, keinen Gebrauch von jenem Befugnis machen? selbst nicht auf die Gefahr hin, daß ich von unsern Barbaren, den Kunst- und Gewohnheitstieren, die es nun nicht besser verstehen, ausgelacht werde? Soll der Weltumsegler, wenn die Wilden Indiens ihm Menschenfleisch zum Schmause vorsetzen, sein Grausen überwinden, die scheußliche Sitte mitmachen, damit ihn die Indianer nicht auslachen? – So viel, Norbert, über das, was meine Person unmittelbar und allein berührt.«

Hier schwieg Olivier einen Augenblick, als wolle er allfällige Antworten abwarten, fuhr aber bald fort: »Übrigens, o Norbert, erinnere dich des Bruchstückes aus der Reise des Pytheas, und deines eigenen Geständnisses von der getroffenen und treffenden Wahrheit. Du selbst gibst zu, daß sich die menschliche Gesellschaft unsers Weltteils weit von den Gesetzen der Natur hinweg verloren hat. Ihr Alle gestehet, daß wir eben darum unendlich viel zu leiden haben; denn die Verletzungen der ewigen Gesetze Gottes führen ihre Strafen gegen die Frevler in sich selbst mit. Keiner von euch leugnet, daß euer gesamter bürgerlicher und häuslicher Zustand, daß eure Verfassungen, Sitten und Lebensweisen nur höchstens ein folgerechtes Bestehen im Naturwidrigen sind. Aber wer von euch hat den Heldenmut der Vernunft, zu den einfachen ewigen Ordnungen Gottes zurückzukehren? An diesem Heldenmut fehlt es! Wohlan, mir ist er nicht fremd. Es ist gut, daß Einer und Einzelne, unbekümmert um Wahn und Gelächter des großen Haufens, das Beispiel des Guten und Rechten im Leben hinstellen. Es ist gut, daß Einzelne aufstehen, die nicht mit dem herrischen Wahnsinn des Zeitalters kapitulieren und Akkomodements treffen, um mich eurer Sprache zu bedienen, sondern ihm offene Fehde bieten. Denn durch bloße Lehren von Kanzeln, Kathedern und Schaubühnen, durch bloße Philosopheme, durch Lobreden auf Natürlichkeit und Wahrheit wird nichts getan. Ihr redet, philosophiert und schreibet immerdar, und die Lehrer bleiben selbst immerdar wie sie sind, und die Schüler werden nicht anders. – Darum ist's gut, daß Einzelne die Urbilder des Bessern in der Wirklichkeit des Lebens hinausführen. Allerdings wird man sie anfangs für Unsinnige halten, und bemitleiden und bespötteln. Nach und nach gewöhnt sich das Auge der Zeitgenossen aber an die fremdartigen Erscheinungen. Endlich wird gesagt werden: Aber der Mann hat doch in vielen Dingen so unrecht nicht. Zuletzt wagen es die Kühnsten, schüchtern in einzelnen Dingen nachzufolgen. – Und, Norbert, wer die Menschheit, oder auch einen kleinen Teil der Menschheit nur um einen Schritt wieder zur Natur zurückgeführt hat, der hat für die Flüchtigkeit des Lebens genug getan. – Und so, lieber Freund, laß mich gewähren! Viele pflegen den, der recht tut, nur deswegen zu tadeln, weil es sie verdrießt, daß eben er, und nicht sie selbst den Mut haben, das Rechte zu tun. – Weil ich ohne Luxus und mit Verbannung des Fremdartigen trinke und speise; weil ich mich bequemer und dem Auge gefälliger kleide; weil ich dem männlichen Bart seine Ehre widerfahren lasse; weil ich den Vorrechten und Vorurteilen meiner Kaste entsage, und nicht mehr, als ich wert bin, gelten will; weil ich mich durch Vermählung mit einem Mädchen von niedriger und unehelicher Abkunft nicht zu beflecken glaube; weil ich keine Ehre durch einen Zweikampf herstellen, und kein Zeichen meiner wirklichen oder geheuchelten Verdienste auf der Brust zur Schau tragen mag; weil ich Leibeigene zu meinen freien Mitmenschen und Freunden mache; weil ich die Lüge verachte, die Wahrheit ohne Furcht bekenne: darum werde ich noch im neunzehnten Jahrhundert als der Narr behandelt, ungeachtet ich der Vernunft gemäß lebe, nicht gegen bestehende Verfassungen und Gesetze mich verging, Niemandem Leids zufügte, Manchem Gutes erwies, nie das wahrhaft Sittliche und Anständige verletzte. – Hier, Norbert, hast du meine Antwort auf deine Frage. Nun laß uns davon abbrechen.«

Wir brachen ab. Ich umarmte den edlen Sonderling, und sagte ihm nur lächelnd: »Wir haben ein altes Sprichwort: Allzuscharf macht schartig.«

Nach einigen Tagen verließ ich ihn. Die Erinnerungen an Flyeln werden zu den angenehmsten meines Lebens gehören. Ich will auch nicht bergen, daß, wenn die ganze Welt in den Wahnsinn meines Oliviers verfallen wollte, ich mit Freuden einer der ersten Wahnsinnigen werden würde. Wir haben seitdem unsern Briefwechsel wieder hergestellt, und ich habe ein Gelübde getan, von Zeit zu Zeit in das glückselige Flyeln zu wallfahrten.


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