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Gast kommt zur Welt

Auf Seeland kam er zur Welt. Sein erster Eindruck war ein Vogelbeerbaum voll roter Beeren, die wie eine wunderbare Offenbarung über seinem Kopfe schwebten und den Blick noch höher hinauf zogen, zu einer Welt von luftigen, grünen Baumwipfeln, bis zum blauen Himmel hinauf, wo große weiße Dinge aus der seligen Tiefe zogen. So sahen seine Augen zum erstenmal den Tag.

Von irgendwoher aus dem Blau kamen Licht und Wärme, er wandte sein Gesicht dorthin und begegnete einem mächtigen, weißen Feuer, das wie ein geschmolzener Ring funkelte; geblendet schloß er die Augen, und da war es, als ob die Dunkelheit unter seinen Lidern von seltsamen Farben lebte. Als er die Augen wieder öffnete, spukten die fahlen Flecke, Geister der Sonne, oben in den Bäumen, am Himmel und auf allem, was er sah.

Die Mutter hatte den Kleinen unter einem Baum am Waldsaum auf den Rücken gelegt, und sie sah, daß er anfing, wahrzunehmen; er war so versonnen, in seinen zarten Zügen drückte sich ein Wunder aus. Er zog seine Glieder an sich und blickte furchtsam, als ein Vogel aus einem Busch flatterte und einen Augenblick in der Luft mit den Flügeln schlug, bevor er wieder ins Laubwerk schlüpfte; nicht weniger entzückte ihn ein kleiner grüner Wurm, der sich an einem unsichtbaren Gespinst hißte und in der Brise über seinem Kopf krümmte. Die Mutter lachte über ihn vor Freude und Weh, wie Mütter lachen – der kleine Gast konnte wohl gar nicht begreifen, wo er hingeraten war!

Daher bekam er seinen Namen. Hatte er sich doch wie eine kleine stumme, hilflose und fremde Person eingefunden, auf der Fahrt von einer unbekannten Welt in eine andere. Seine Mutter war bewußtlos gewesen, als er zur Welt kam, und die Frauen, die bei ihr waren, fürchteten schon, daß sie nie wieder zu sich kommen würde; da aber hörte sie in ihrer Betäubung, daß der kleine Gast weinte, und als sie die Augen aufschlug und sah, wie schwach er war, machte sie den Frauen ein Zeichen, daß sie ihn ihr an die Brust legen sollten. Es war, als ob die Mutter schon auf dem Wege ins Jenseits gewesen sei und gern dort geblieben wäre, denn als sie erwachte, war sie kaum ein Mensch mehr; als es aber dem Neugeborenen an ihrer Brust zu behagen schien, bekam sie wieder Lust zu leben. So kam jeder von ihnen aus seiner unbekannten Welt, und sie trafen sich im Leben. Der kleine Fremde machte einen ausgiebigen Besuch, Gast sollte er heißen und willkommen war er.

Als er erst einmal da war, benahm er sich in jeder Weise wie ein richtiges Kind. Nicht lange, und er begann seine Fäustchen zu gebrauchen; schlug nach etwas, worauf er mit Eifer gestarrt hatte und traf häufig daneben; bekam er aber das Erstrebte zu fassen, dann in den Mund damit, und die Mutter mußte das kleine Mäulchen manch liebes Mal aufpressen und mit dem Finger reinigen, bevor er lernte, zwischen eßbaren Dingen und Erde zu unterscheiden.

Die längste Zeit verbrachte er übrigens süß schlafend im Rückensack der Mutter, wurde tüchtig gerüttelt und manchmal auch naß, wenn seine Mutter sich Muscheln suchend am Strande bückte; doch das würzte nur seine Träume, ohne ihn im Schlaf zu stören.

Kaum hatte er gehen gelernt, als er eines Tages nach einem Gewitter schwankend das Knie seiner Mutter verließ, um sich des Regenbogens zu bemächtigen, der anscheinend mit dem einen Ende gleich neben ihm im Grase stand; der Regenbogen aber wich zurück, wenn er sich näherte, und als er auf diese Weise ganz bis zum Strande gekommen war, schwebte der Regenbogen mit seinen beiden Säulen über dem Wasser; ohne zu zögern, hob er sein kleines Fellröckchen und wanderte ins Wasser; die Mutter mußte herbeieilen und ihn an Land tragen, kopfschüttelnd und lachend über den Unternehmungsgeist des kleinen Mannes. Er würde es weit bringen, das war klar. Noch war er dem Knabenalter nicht entwachsen, als er dann auch schon auf eigene Faust seinen Stamm verließ.

Gasts Mutter war eine Frau aus der Steinzeit, Gro Gro = wachsen. mit Namen. Sie war die Mutter des ganzen Stammes. Das Dorf war voller Kinder. Gro selbst hatte eine prächtige Schar, doch machte sie keinen Unterschied zwischen ihren eigenen und denen der anderen, sie sorgte für alle. Wo immer ein Kind ihr die Ärmchen entgegenstreckte, nahm sie es auf und gab ihm einen Trunk und Schlaf an ihrer Brust. Sie war des Morgens die erste am Platze, und sie war die letzte, die zur Ruhe ging, niemand hatte sie je schlafen sehen. Der Stamm hielt ohne Zwang zusammen, dank Gros Autorität. Im Kreise der Männer war es unentschieden, wer der Führende war, und entstand eine Meinungsverschiedenheit, so wurde Gro um Rat befragt und der Zwist beigelegt. Alle Männer liebten sie.

Unter Gros Schutz verbrachte Gast seine Kindheit auf einem sonnigen Sandstreifen, zwischen Wald und Ufer.

Die kurze, altnordische Sage von Norne-Gast schildert ihn nur als den übernatürlich alten, einsamen Wanderer, der zu Olav Trygvesons Hof kam und dort ohne etwas einzuwenden sein Lebenslicht verlöschen sah; die Sage drang einige Jahrhunderte tief in sein Leben ein, bis sie sich in der dunklen Sagenzeit verlor; sein Ursprung aber war viel älter.

Norne-Gasts Lebensdauer erstreckte sich über die ganze Kindheit der Menschheit, von der Steinzeit, als der nordische Stamm sich längs der baltischen Küsten ansiedelte, bis er, in drei große Völkerschaften geteilt, ins Christentum eintrat. Weiter vermochte Gast ihm nicht zu folgen; er war Heide, hatte das Altertum von der Wurzel bis zum Gipfel in seinem Wesen aufgenommen, und als die Zeiten sich änderten, hatte seine Reise ein Ende. Nicht, daß er den neuen Göttern mit Unwillen begegnete, andere aber eigneten sich besser für ihn.

Die Sage schildert ihn als einen alten, freundlosen Wandersmann, der eines Winterabends vor der Haustüre steht, von dem Lichte des Herdfeuers beleuchtet, als ob er immer alt, immer auf Wanderung und nie im Gleichschritt mit der Zeit gewesen sei. Und dabei hatte er ja gerade gelebt, als die Zeit noch jünger war und die Menschheit den Quellen des Lebens noch näher stand. Obdachlos wurde er erst, als er unter Geschlechtern wanderte, die anderen Ursprunges waren als er, oder ihren Ursprung aus dem Gesicht verloren hatten.

Hier nun soll von Norne-Gasts Jugend erzählt werden und ihrer inneren Unsterblichkeit, wovon die Sage nichts berichtet.


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