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Beim Eichhörnchen

In dem Fjord, an dessen Ufer Gast geboren war, hatte ein Bach seine Mündung; die Bewohner des Ortes kannten ihn eine halbe Tagereise weit aufwärts; dorthin aber, wo er sich in den dichten, fremden Wäldern verlor, hatte sich noch niemand gewagt.

In jene Richtung nun waren Gast und Pil mit ihrem neuen Boot gerudert.

Eigentlich hatte Gast gleich durch die Bucht in See stechen und längs der Küste die Inseln und das große, ferne Land, von denen die Alten erzählt hatten, aufsuchen wollen; seine Mutter aber hatte ihm davon abgeraten. Bei ihrer heimlichen Unterredung hatte sie ihm vorgeschlagen, den Bach hinauf ins Innere des Landes zu rudern und dort erst eine Zeitlang zu leben; später konnte er sich dann auf größere Reisen begeben, falls ihm noch immer der Sinn danach stand. Gro musterte die beiden Kinder mit gerunzelten Brauen, bedachte ihr Alter und riet Gast, zwei Sommer fortzubleiben. Und dann schieden sie.

Der Eichenkahn war lang und schmal, und da Pil an ihrem Ende ebensogut ruderte, wie Gast an seinem, kamen sie mit erheblicher Geschwindigkeit vorwärts. Zeitig am Morgen waren sie aufgebrochen, bevor noch jemand aufgestanden war, ausgenommen Mutter Gro, mitten am Tage hatten sie bereits den Fjord hinter sich und ruderten jetzt den Bach hinauf, an bekannten Gegenden vorbei; dann aber drangen sie in neues Land ein, vor Verfolgung von hinten gesichert, was ihrer aber vorn wartete, war recht zweifelhaft.

Als sie sich hinter mehreren vorspringenden Landzungen und Buchten geborgen fühlten, ruhten sie und hielten ihre erste Mahlzeit, das heißt, zuerst mußten sie fischen. Gast stieg an Land, um Würmer für seinen Angelhaken zu suchen; Fische hatten sie die ganze Zeit im Bache gesehen, und es dauerte nicht lange, der Wurm war kaum unter der Wasserfläche verschwunden, als auch schon ein Gewimmel von schwarzen Fischrücken aus dem Grunde auftauchte, der Haken wurde hin und hergezerrt und zerriß den Wasserspiegel; zuerst zog Gast einen breiten Fisch mit schwarzen Schuppen und roten Finnen heraus, tötete das zappelnde Tier auf der Stelle mit den Zähnen, bekam dabei den Mund voll Süßwasser und köstlichem Fischsaft und aß weiter, da er einmal im Gange war, der ganze Fisch ging durch den einen Mundwinkel herein und kam als abgenagte Gräten durch den anderen wieder heraus; die lange Rudertour hatte ihm Appetit gemacht.

Gast war sehr zufrieden mit den Angelhaken, die er selbst mit häßlicher Berechnung aus Fischgräten gefertigt hatte; denn mit Fisch muß man Fisch locken, und es war an sich ein köstlicher Gedanke, daß der Fisch seine eigenen Gräten in den falschen Hals bekommen würde.

Pil saß an ihrem Bootsende, sie hatte Gast züchtig den Rücken gekehrt und verspeiste den kleinen Fisch, den sie selbst gefangen hatte; denn sie besaß Lebensart genug, um nicht zu zeigen, daß sie aß. Das tat keine der erwachsenen Frauen, man steckte hin und wieder, wenn niemand es sah, einen Bissen in den Mund, niemals setzte man sich zu einer Mahlzeit nieder; keiner hatte Mutter Gro je essen sehen.

Fische gab's hier genug, sie drängten sich förmlich auf dem Grunde, um auf den Angelhaken zu gelangen. Als die beiden satt waren, wickelten sie die Schnur wieder auf und ruderten weiter, nachdem sie noch ein paar Handvoll von dem süßen, fruchtbar duftenden Wasser des Baches geschlürft hatten.

Sie ruderten den ganzen Tag und den folgenden, durch wildfremde Gegenden, aus und ein durch die Buchten des Baches, der ihnen mit einem breiten, ruhigen Wasserspiegel zwischen hohen Schilfufern entgegenkam; das Schilf versperrte meistens die Aussicht; an schmalen Stellen wo Strom war, wiegte es sich sanft, während es sich in den Buchten im Wasser spiegelte; wo das Wasser tief war, war die Oberfläche bewegt, die Wellen glucksten unter dem ausgehöhlten Holzboot, ja, ja, der Bach hatte seine Geheimnisse. Wenn sie schnell um eine Ecke bogen, jagten sie oft etwas Lebendigem auf dem Grunde einen Schreck ein, eine tiefe Furche mit Ringen zur Seite rannte vor ihnen her, wohl ein großer Fisch oder ein Otter, vielleicht der Bachgeist selbst; häufig flog ein Reiher ganz in ihrer Nähe auf, mit gebogenem Halse und baumelnden Beinen. Schwalben streiften im Fluge die Wasserfläche, nach Mücken schnappend, plumps, klang es von den Ufern, wenn Frösche oder Wasserratten ins Wasser sprangen, und die Natter schwamm mit großen Windungen vom einen Ufer zum anderen, den Kopf und die beiden Eiterflecke im Nacken hoch aus dem Wasser erhoben. Schon von weitem flogen ganze Scharen von Wildenten vom Bach auf, das schwarze Wasserhuhn verbarg sich zwischen dem Schilf oder tauchte unter; wo die Aussicht etwas freier war, sahen sie einmal eine Herde Rotwild mit hohen Sprüngen durchs Gras setzen, bei jedem Sprung schienen sie einen Augenblick in der Luft zu verweilen. Weit, weit hinten wölbte der Wald seine Kuppeln zu beiden Seiten des Baches.

Von seiner Mündung bis tief ins Land hinein hatte der Bach sich durch breite Sumpfstrecken und Gestrüpp geschlängelt, undurchdringliche Moore; nach und nach aber wurde das Tal enger, der Wald kam zu beiden Seiten näher heran, und das Land formte sich zu einem gewundenen Tal mit Wiesen und Gehölz und großen dichten Waldungen auf dem Grunde.

Nachdem sie noch den ganzen nächsten Tag gerudert waren und sich ganz sicher fühlten, von der Stille und Einsamkeit der neuen, wilden Gegend ganz verschlungen, führte die Windung des Baches sie an der einen Seite des Tales ganz dicht an den Wald heran; hier stieg das Land sanft an und war mit hohen, luftigen Bäumen bestanden; etwas an dem Orte zog sie an, und da die Sonne bereits niedrig über dem Tal stand, von wo sie gekommen, das Schilf vom Ufer zurücktrat, und ein breites, sandiges Ufer zum Landen einlud, viele Tierspuren zeugten davon, daß hier eine Trinkstelle sei, beschlossen sie an Land zu gehen, zogen den Eichenkahn so hoch auf den Strand hinauf, daß er nicht fortgeschwemmt werden konnte, und hielten Umschau.

Der Wald öffnete sich ihnen, sie waren ganz allein mit ihm und fühlten, daß sie sich ihm nähern mußten, was er auch vor ihnen verbergen mochte, mit ihm sollten sie von jetzt an leben. Sie faßten sich bei den Händen und gingen durch die Stämme, langsam, der Schatten des Waldes umfing sie, von ihren Schritten hallte es hohl wieder, groß und einsam war es hier.

In den Büschen vor ihnen knackte etwas, sie blieben stehen, es knisterte ihnen durch alle Glieder, sie sahen nichts, etwas weiter fort im Haselgebüsch aber bewegte sich etwas, ein Tier brach durch die Zweige, und sie nickten und sahen sich an, öffneten die Lippen, fanden aber keine Worte.

Vorsichtig, mit leisen Schritten, begannen sie die nächste Umgebung zu untersuchen. Der Wald schob sich hier mit einem langen, schrägen Abhang ins Tal zum Bach hinab, zu beiden Seiten führten Lichtungen zu kleineren Seitentälern, der große unbekannte Wald streckte hier gleichsam einen Arm vor; daß dieses Stück des Waldes abgegrenzt war, jedenfalls nach drei Seiten, erschien ihnen vertrauenerweckend, und darum versuchten sie es sich hier heimisch zu machen.

Im Grunde des einen Seitentals fanden sie eine Wasserrinne, die sich mit dem Bach vereinigte, und indem sie ihr ein Stückchen aufwärts folgten, kamen sie plötzlich zu einer Quelle. Sie lag am Ende einer Kluft, die das Wasser gegraben hatte, als ob sich hier ein Eingang zu Wald und Land öffnete.

Die Quelle entsprang zwischen Steinen und knorrigen Wurzeln, unter einem großen Baume, und rings im Kreise standen andere sehr große Bäume. Die Quelle bildete ein tiefes, kühles Loch mit feinem, weißem Sand auf dem Grunde, und im Sande war eine seltsame Öffnung wie ein lebendiger Mund, der Sand von den Lippen blies, ihn mit der Zunge umrührte, sich rund machte und aus der Tiefe Wasser hervorstieß, sich darauf schloß und von neuem öffnete, ohne daß man einen Laut hörte, und auch sehen konnte man kaum, daß das Wasser kam, so durchsichtig war es; nur der Sand, der die ganze Zeit in Bewegung war, kündigte an, daß beständig frischer Zufluß kam, es weitete sich dort unten von den klaren, immer neuen Wassermengen; die unterirdische Fülle gebar Wasser und gab es aus dem Grunde des Loches von sich, so daß die Grube übervoll wurde, überlief und zu einem Bächlein ward.

Seltsam dunkel und gewaltig war es hier unter den hohen Bäumen, die sich über die Quelle neigten und mit ihren rauschenden Kronen hoch oben unter dem Himmel, wo sie den Tag ausschlossen, redeten. Weiter hinten wirkte der Wald dunkel, Bäume, Bäume in der Erde wurzelnd und sich in einer luftigen Mauer von Bäumen und Dunkelheit in der Ferne verlierend; tiefer Ernst atmete dort. Durch ein Loch zwischen den Bäumen aber konnte man nach der anderen Seite auf die Lichtungen herabsehen, sie lagen offen im Sonnenschein da, und der blaue Wasserspiegel des Baches schlängelte sich hindurch. Unter den Bäumen aber war tiefer Schatten, und im Herzen des Schattens lag die Quelle.

Gast und Pil faßten Mut und beugten sich über die Quelle, und sie gab ihnen ihre Gesichter in ihrem Spiegel zurück; sie faßten es als einen Willkommensgruß auf und tranken Mund an Mund mit dem stillen Wasserspender dort unten; es war der erste lange, süße Trank, den die neue Welt ihnen zum Willkommen bot, von dem innersten Erdgeschmack und der reinen Kühle des Landes gesättigt. Während sie tranken, wurden auch ihre Gesichter genäßt und erfrischt, die Quelle erquickte sie von innen und außen.

Und als sie getrunken hatten, lachten sie, denn ein Wunder war ihnen geschehen, die Niedergeschlagenheit war aus ihrem Gemüt gewichen, sie fühlten sich wie neugeboren, Süße drang ihnen durch alle Glieder; so köstlich war das Wasser der Quelle. Und plötzlich fühlten sie sich hier wie zu Hause, erinnerten sich kaum mehr des Wohnplatzes an der Bucht und an all das, was hinter ihnen lag, obgleich erst zwei Tage vergangen waren, das alles war jetzt ohne Wirklichkeit, ein neues Leben und eine neue Wirklichkeit hatten begonnen. Hier waren sie und hier wollten sie bleiben. Solch wundersame Kraft besaß das Wasser der Quelle.

Als sie getrunken hatten und gelabt worden waren, wollten sie der Quelle eine Gegengabe geben. Das einzige, was Pil besaß, war eine Halskette aus Wolfszähnen, die ihre Mutter ihr zum Schutz gegen wilde Tiere gegeben hatte; leicht war sie nicht zu entbehren, außerdem das einzige, was Pil besaß und womit sie bekleidet war; dennoch entschloß sie sich, die Kette der Quelle zu schenken und ließ sie in das Loch fallen. Die Quelle nahm sie freundlich an, sie sank bis auf den Sandboden und blieb dort liegen. Gast war ebenso nackt wie Pil in das neue Land gekommen, er trug nur sein Amulett um den Hals, daß er indessen keinesfalls opfern konnte. Er begann in seinem Haar zu wühlen und zog einen langen, aus einem Knochen gefertigten Pfriemen heraus, er suchte weiter und brachte nach und nach, nicht ohne daß ganze Haarbüschel mitfolgten, mehrere Fischhaken, eine Rolle Sehnen und andere kleine Gebrauchsgegenstände ans Tageslicht, die er der Quelle opferte, und auch diese Gaben nahm sie gnädig an.

Auf diese Weise waren sie mit dem Geist der Quelle in Verbindung getreten und fühlten, daß sie hier bleiben und sich in seiner Nähe niederlassen durften, bis sie sich auch mit dem Walde gut standen und in seiner Tiefe verweilen konnten.

Der Wald war hier höher und dichter als der, den sie aus ihrem früheren Dasein kannten, und würde sicher nicht weniger Gefahren bergen. Vorläufig schien er indessen keine weitere Notiz von ihnen zu nehmen, er sprach lange und weitschweifig mit sich selbst, wie Wälder und alte Leute zu tun pflegen, und sie ihrerseits hatten nicht die Absicht, übermütig und hastig gegen sichtbare oder unsichtbare Mächte in dem neuen Lande vorzugehen.

 

Gast ruderte den Eichenkahn den Wasserlauf hinauf, so weit er kommen konnte, um ihn in Sicherheit zu bringen. Gegen Abend fischten sie im Bach und bekamen so viele Forellen auf ihre Angel, wie sie sich nur wünschen konnten; die großen Fische jagten die kleinen fort, um den Köder zu erlangen.

Nachdem sie sich aber gesättigt hatten und auf dem Rasen in der Nähe der Quelle saßen, kamen die Gedanken. Ohne daß sie davon sprachen, meldete sich bei beiden dieselbe Vorstellung: der verlassene Strand zu Hause. Rohe Fische schmeckten gut das erstemal, aber auf die Dauer süßlich, und sie konnten nicht mit zwei Schritten am Strande sein, um sich eine Muschel mit Salzwasser zu suchen, worin sie die Speisen tauchten.

Überhaupt der Strand, an dem man sich den ganzen Tag essend herumtrieb, wo man sich Austern, große, dicke schwere, nasse und salzige Austern holen konnte, die sich mit der Kraft eines Mannes zusammenpreßten und die man zwischen zwei Steinen zerschlagen mußte, bevor man sich daran gütlich tun konnte; Blaumuscheln konnte man zwischen den Zähnen zermalmen und Saft und Salzwasser heraussaugen; Strandschnecken holte man mit einem Dorn aus ihrem Haus, Herzmuscheln, sogar der herbe Tang schmeckten gut …, Gast seufzte. Von einer richtigen Mahlzeit warmer Austern gar nicht zu reden, rauchende, heiße Austern, in ihrem eigenen Salzwasser gekocht, mit Asche gewürzt …, ehrlich gestanden, Gast konnte begreifen, warum die Alten blieben, wo sie waren und sich nie länger als eine Tagereise vom Strande entfernten …, und das Feuer …, Gast seufzte.

Er blickte sich um, sie hatten natürlich kein Feuer, und wohin sollten sie sich wenden, um einen brennenden Zweig zu bekommen? Unwillkürlich suchte Gast sich zwei Stäbe, betrachtete sie, legte sie zusammen und rieb sie gegeneinander, wie er es in der Nacht des Sonnenwendfestes gesehen hatte, als der kluge Alte Feuer hervorzauberte; bald aber verlor er den Mut, sein Vorhaben hatte nicht die geringste Wirkung, auch traute er sich nicht die Zaubermacht zu, die dazu gehörte, und zweifelte, daß das Feuer gerade aus diesen beiden ganz gewöhnlichen Holzstücken entstehen würde. Zum Feuermachen gehörte unzweifelhaft ein Geheimnis, in das er nicht eingeweiht war; außerdem mußte ein Opfer für das Feuer bereitgehalten werden, mindestens ein Stück Rotwild, sonst konnte man sich großen Unannehmlichkeiten aussetzen. Gast ließ die Stäbe fallen und dachte vorläufig nicht mehr an Dinge, die über seinen Verstand gingen. Im selben Augenblick aber erschauerte er, der Abend nahte, und es war gar nicht mehr warm. Es dämmerte, das Licht schwand!

Der Mut sank ihnen; je mehr der Abend fortschritt, desto kleinmütiger wurden sie, nach und nach kannten sie sich selbst kaum mehr. Die Nacht im heimatlichen Wohnort mochte ihr Grauen haben, dort aber kannten sie sie kaum, versteckten sich immer rechtzeitig in den warmen Höhlen bei den Frauen, kuschelten sich in einem Nest von warmen Fellen ein, zusammen mit ein paar jungen Hunden, die sie wärmten. Hier aber waren sie allein, mußten unbeschützt, ohne Feuer und Wärme, der Nacht entgegengehen.

Die Sonne war untergegangen, die Dämmerung kam aus dem Walde hervorgekrochen. Drinnen im Walde war es schon lange ganz dunkel, in jene Richtung wagten sie gar nicht mehr zu blicken. Noch ruhte ein Tagesschimmer auf Wiese und Bach, und die geschwungene Linie des Waldes auf der anderen Seite des Tales hatte einen grünen Rand im späten Licht; plötzlich aber verschwand auch er, und das ganze Tal war wie erloschen. Es wurde so still ringsum, Himmel und Erde veränderten sich, ein sichtbares Ding nach dem anderen verlor sein Wesen und ging in Dunkelheit unter. Mit der Luft ging irgendetwas vor, sie wurde eine andere, Kälte stieg aus der Erde auf, Pflanzen und Steine wurden naß wie von Tränen.

Die letzten Flötentöne der Tagesvögel, die durch den Abendschimmer geklungen hatten, verstummten, und andere beunruhigende Lebenszeichen, Stimmen aus einer unsichtbaren Welt, ließen sich statt dessen hören. Die Krähenzüge waren in verstreuten Scharen über den Abendhimmel geflogen, indem sie sich gegenseitig heiser zugerufen hatten, jetzt blieben auch sie aus, und man fühlte sich einsamer, nachdem sie verstummt waren. Ein häßlicher, langgezogener Schrei hallte durch den Wald, von einem Wesen, das sie nicht kannten.

Gast und Pil saßen unbeweglich im Grase zwischen Bach und Wald, an derselben Stelle, wo das Bewußtsein von dem Schwinden des Tages sie zuerst ergriffen hatte; seitdem hatten sie nicht den Mut gehabt, sich von der Stelle zu rühren.

Etwas flog brummend an ihnen vorbei, dicht an ihren Köpfen, mit einem plötzlich zunehmenden Laut, und war ebenso schnell wieder fort, schwand wie eine einsame Stimme durch den Abend. Sie waren zu Tode erschrocken, jeder Laut machte sie erstarren, traf sie mitten ins Herz, mehr konnten sie nicht ertragen, sie ließen die Köpfe sinken, legten sich auf die Erde und suchten etwas, worunter sie sich verbergen konnten, begruben die Gesichter gegenseitig in ihren Haaren.

Entsetzlich wurde die Nacht. Das heimliche Wesen des Waldes, das verborgen ist und das man am Tage nur ahnt, trat jetzt deutlich hervor, nachdem die Dunkelheit zu zaubern und zu schwitzen begonnen hatte, Erde, Wald und Himmel wurden zu einer ungeheuren, zottigen Höhle voll hinterlistigen Lärmes verschiedenartiger Stimmen, zu einem unendlichen, gurgelnden und tönenden Chor, der aus dem Moor zu kommen schien, Geheul bald hier, bald dort, es raschelte und trippelte im Walde, schnarchte, lachte laut, brüstete sich, zottige Flügelschläge über den Baumkronen; in den fernen hohlen Wäldern brüllte hin und wieder etwas Übernatürliches, das die ganze nahe Welt zu einem widerhallenden Entsetzen verwandelte. Aus den innersten Kammern des fernen Waldes erhob sich ein langgezogenes, gellendes Geschrei, das zum Himmel stieg, aus tiefen Schluchten Echo gab und durch die ganze Welt wogte, eine Warnung, daß aller Friede im Walde jetzt gekündigt sei.

Die beiden Menschenkinder fühlten sich zu Boden gedrückt, sie preßten sich fester gegen die Erde und aneinander, mit festgeschlossenen Augen, und das Blut erstarrte ihnen in den Adern; es bellte, bellte durch den Wald, sie hatten schon längst vergessen, wer sie waren, wo sie waren, ihre Seelen waren wie die Allnatur um sie herum, von Dunkelheit und Grauen erfüllt.

In diesem Zustand schliefen sie ein, ohne es zu wissen, und erwachten wieder, auch ohne sich dessen bewußt zu werden; es war noch dieselbe Nacht, jetzt aber war Wahnsinn und Tod in ihr, denn ganz in ihrer Nähe unter den Büschen sahen sie zwei Augen, die wie Kohlen in der Dunkelheit glühten, sie sahen einen Schatten, der sich bewegte, und sie erhoben sich schreiend, mehrere Schatten strichen durch das Gebüsch – und jetzt geschah etwas Unheimliches, etwas, was man hier im Walde noch nie gehört hatte; ein zweistimmiges, wahnwitziges Menschengeschrei erhob sich, sie schrieen beide aus vollem Halse, fingen wieder von vorn an, ein furchtbares Geheul, das sie selbst nicht einmal kannten, sie schrieen noch lauter, wurden selbst wie besessen davon, ein immer hitziger werdendes, langanhaltendes, wildes und Grauen erweckendes Geheul.

Die Wölfe schlichen wie Striche in der Nacht davon, noch lange taten ihnen die Ohren weh. Und der ganze Wald hatte auf das Geschrei gehorcht! Meilenweit war es still geworden, alles Geraschel hatte aufgehört, man konnte verhallende Flügelschläge und den Galopp flüchtender Wesen in der Ferne vernehmen. Und als das Menschengeschrei schließlich verstummte, nach einem letzten durchdringenden Gekreisch, noch einmal, und zum Schluß noch ein gekränktes Schluchzen, da trat Totenstille im Walde ein; der Mensch hatte sich vernehmen lassen!

Es waren aber gar keine Menschen mehr, sondern zwei schwarze, kriechende Klumpen in der Dunkelheit, sie krochen auf allen Vieren, um zu einem Ort zu gelangen, wo sie sich verstecken konnten, sie sahen sich mit wahnwitzigen Augen um und bekamen den Blick voll Finsternis, sie heulten und schnappten nacheinander, schlossen die Augen wieder, suchten den Wald, und blindlings kriechend erreichten sie die Bäume, kletterten tastend, mit geschlossenen Augen einen Stamm hinauf, bis sie die ersten Äste erreichten, schoben sich höher und höher zwischen den Gabelungen der Äste hinauf, bis sie merkten, daß die Zweige dünn und schwankend wurden; da erst gaben sie sich zufrieden, krochen zusammen auf einen Ast, die Arme umeinander und um den Stamm geschlungen; und so blieben sie die Nacht über hängen.

Ruhe aber fanden sie nicht, sie versanken in einen Halbschlaf, wußten nicht, ob sie schliefen oder träumten, wo sie waren, oder wer sie waren, es fror sie jämmerlich in dem luftigen Baum, zitternd und mit festgeschlossenen Augen durchlebten sie eine Ewigkeit von Ängsten.

Die Nacht war lang. Es hatte nie etwas anderes als diese eine Nacht und ihr Elend gegeben, nie etwas anderes als die harten Äste, auf denen sie saßen, Dunkelheit nach außen, von dem bösen Rascheln und Atmen des Waldes erfüllt, und Dunkel und Entsetzen auch nach innen, hinter den geschlossenen Lidern, ob man wachte oder träumte. Hatte es je etwas anderes als Finsternis und Schrecken gegeben? Sie waren blind und hatten sich in der schwarzen Unendlichkeit verloren, wo alles Angst ist und die Zeit stillsteht.

 

Alles aber nimmt einmal ein Ende. Schließlich merkten sie, daß die Nacht eine andere wurde, es schwieg im Walde, und wenn sie ihre Augen einen Spalt breit öffneten, sahen sie, daß es nicht mehr ganz dunkel war. Das weiße Horn des Mondes stand am Himmel; auf der entgegengesetzten Seite aber röteten sich die Wolken, dort würde die Sonne aufgehen, dachten sie.

Da brach sie wie ein Feuer durch die Bäume, und gleichzeitig fühlten sie ihre Wärme auf der Haut. Der Wald legte seine düstere Verkleidung ab, wurde wieder zu Bäumen, als ob er nie etwas anderes gewesen sei; die kleinen Vögel begannen bescheiden zu zwitschern, ein Zeichen, daß Friede in die Natur zurückgekehrt war. Es war so ruhevoll im Walde, und während die Sonne immer höher stieg und das Licht sich auf den grünen Kronen breitete, nahm auch das Gezwitscher zu.

Da senkte sich unwiderstehlich Müdigkeit auf die beiden, sie sanken auf ihrem Ast von einem Schlaf in den anderen, nur wenn ihr Griff um den Stamm sich lockerte und sie drauf und dran waren, herunterzufallen, erwachten sie verdrießlich. Noch war es ihnen nicht ganz klar geworden, wer sie eigentlich waren, sie sahen sich mit gebrochenen Augen an, nur von dem Wunsche zu schlafen beseelt.

Als es endlich ganz hell geworden war, kletterten sie herab, steif vor Kälte und noch ganz verwirrt, gingen in den Wald, um sich zu wärmen und sich die Verschlafenheit aus dem Leibe zu gähnen. Es war jetzt hellichter Tag geworden. Der Bach schlängelte sich blank, den Himmel in seinem Spiegel, der Ringe bildete, wenn die Forellen nach den sonnenvergoldeten Mücken sprangen; die hohen Gräser standen gebeugt, von Tau beschwert.

Aus dem Innern des Landes, wo die Sonne mit ihrer blendenden Lichtfülle durch die Täler kam, ertönte ein Gebrüll, mächtige, klangvolle Laute, die den Tag füllten, aus den Wäldern widerhallten und lange in den stillen Tälern vibrierten, war das die Sonne? Sie hatten noch nie gehört, daß die Sonne solche Laute von sich gab, wenn sie aufging und ihre Wanderung durch das Land antrat. Eine Welt von Licht ergoß sich über Täler und Wälder, selbst der kleinste Grashalm wurde stark, Steine wurden im Licht geboren, alle Welt empfing die Gnade des Tages.

Schon lag der Wald in Sonnennebel gehüllt, und aus den hohlen Kammern seines Innern gurrte es schläfrig und vertraulich, die verborgene Sommerstimme der Waldtaube. Der Hermelin schlüpfte vorsichtig in seinem Steinhaufen ein und aus und schnupperte mit seiner Schnauze den Sonnenschein.

Auf einem Rasenfleck, der schon von der Sonne aufgetrocknet war, lagen die beiden Menschenkinder und schliefen; als sie sich ganz sicher fühlten, waren sie umgesunken, und jetzt schliefen, schliefen sie, die immer höher steigende Sonne im Gesicht. Aber sie schrien hin und wieder im Schlaf auf, bellten angstvoll und erwachten mit einem Seufzer, sahen sich mit irren Augen an, bis sie sich erkannten, dann schliefen sie weiter, tiefer; endlich wurde ihnen gesunder Schlaf zuteil, während der Fisch mit dem Maul im Bach schnappte, die Libellen zwischen dem Schilf spielten und der Vogelchor im Walde höher und höher schwoll.

Als sie am Vormittag erwachten, waren sie ausgeruht, an Körper und Seele geheilt, sahen sich ruhig um und begegneten friedlichen Dingen, dem Wald, dem Bache, allem, wie es wirklich war, und erkannten sich selbst darin. Sie hatten die Nacht und ihr Grauen überstanden und wandten sich jetzt dem Tage und was er ihnen Gutes brachte, zu.

Gierig biß die Forelle auf den Angelhaken, und gierig bissen die beiden Auswanderer in den Fang, noch etwas verdrießlich, mit bitteren Furchen um den Mund, die die Nacht gegraben hatte; die Nacht hatte sie verschlungen, jetzt verschlangen sie alles, was sie sahen und was ihnen erreichbar war, Schlammschnecken mit dem ganzen Schneckenhaus verschwanden zwischen ihren Zähnen, ein Frosch wurde totgebissen und wanderte denselben Weg; fast balgten sie sich ein wenig um die Nahrung und knurrten, wenn der eine dem anderen einen guten Bissen wegschnappte.

Als sie sich aber gesättigt hatten und milderen Sinnes geworden waren, wandten sie sich wieder der Quelle zu, um zu trinken, und als sie ihre triefenden Gesichter von der Quelle hoben, war es, als ob ein Lächeln darauf haften geblieben sei. Sie spiegelten sich und fielen von einer Verwunderung in die andere, denn sie konnten nicht nur sich selbst sehen, sondern auch einen Wald, der auf dem Kopfe stand, und tief, tief unten einen blauen Himmel; es war, als ob die Quelle ein Loch in der Erde sei, durch das man in eine andere Welt hineinblickte, die ebenso wie die wirkliche Welt war, nur auf den Kopf gestellt, die Bäume hingen mit ihren Kronen in den Abgrund hinab, und man sah leichte, feine Wolken tief unter ihnen ziehen, so tief, daß man sich an den Steinen des Randes festhalten mußte, um nicht schwindlig zu werden; es war wie ein Wunder.

Pil war mit zerzaustem Haar zur Quelle gekommen, jetzt band sie es auf, so daß die Stirn frei und klar wurde, Blumen steckte sie sich ins Haar; Gast sah sich nach Flintsteinen um, Tätigkeitsdrang prickelte ihm in den Fingern.

Die Nacht und ihr Wesen hatte sie in der Dunkelheit zu stummen Tieren gemacht, der Tag machte sie wieder zu Menschenkindern.

 

Es wurde ein geschäftiger Tag. Daß sie nicht noch eine solche Nacht verbringen konnten, darüber war Gast sich klar, und er machte sich daran, ein richtiges Nest oben im Baum zu bauen.

Die erste Nacht auf Reisen hatten sie im Boot auf dem Bach verbracht, recht bequem, hatten den Eichenkahn auf Grund gezogen, als es dunkelte, und waren eingeschlafen, ohne eine Gefahr zu ahnen, hatten bis zum hellen Morgen ungestört geschlafen. Das aber ging nur einmal gut, sicherer war es jedenfalls oben in den Bäumen.

Sie wählten als Schlafstelle den hohen Baum, unter dessen Wurzel die Quelle entsprang. Leicht zu besteigen war er nicht, der Stamm war viel zu dick, als daß man ihn umfassen konnte, und die unteren Äste saßen sehr hoch; von einem dünneren Baum aber, der daneben stand, konnte man sich zu seiner Krone hinüberschwingen. Hoch oben zwischen den Ästen war eine passende Gabelung, die, mit Zweigen und Flechtwerk von Reisern ausgefüllt, ein bequemes und vollkommen sicheres Lager gewähren konnte.

Während Gast sich nun in den Baum hinaufbegab, um Äste abzuschlagen und das Nest zu bauen, pflückte Pil Gras und legte es zum Trocknen in die Sonne; damit sollte das Lager ausgepolstert werden.

In dem Baum aber wohnte schon jemand, ein Eichhörnchen, von dem Gast mit gemischten Gefühlen empfangen wurde; es erschien auf einem Ast und gebärdete sich im höchsten Grade neugierig, richtete sich auf den Hinterbeinen auf, sträubte den breiten, zottigen Schwanz, spitzte die Ohren und bewegte das Maul; es war ihm nicht möglich, sich verborgen zu halten, obgleich es die Gefahr erkannte, es näherte sich in Sprüngen und floh, kaum daß Gast sich bewegte, und schimpfte hoch oben in der Krone des Baumes. Nicht lange aber, dann war es wieder da, setzte sich auf die Hinterbeine und putzte sich beide Backen, perlte mit den Augen, blähte sich, kam näher und verschwand dann wieder mit zwei, drei langen Sätzen. Dies Männchen war Gast wohl bekannt, es war ihm nur noch nie so nah gekommen; es schien sehr aufgeregt über sein Erscheinen und wußte nicht recht, was es daraus machen sollte. Als Gast oben in der Krone Äste abzuschlagen begann, entwich das Eichhörnchen ganz bis in die äußersten Zweige hinauf, von wo es furchtbar schimpfte. Gast störte das Männchen nur ungern, wußte auch nicht recht, welche Macht es hier besaß; da er ihm aber kein Leid antun wollte, konnte es ihm in seinem Baum wohl Gastrecht gewähren, später würde er ihm dann gern einen Gegendienst erweisen. Gast kappte Äste, so groß wie er sie bewältigen konnte und legte sie in der Gabelung zurecht, befestigte sie mit den Stengeln der Kaprifolien und legte Zweige und Ruten darüber, wie er es vom Storch gelernt hatte; bald war ein gutes und geschütztes Lager fertig.

Gast war sich von Anfang an darüber im klaren, daß er sich am Walde vergriff, wenn er Zweige abschlug und anderes, was wuchs, für seine Zwecke verwandte; das Benehmen des Eichhörnchens gab ihm auch zu denken, vielleicht wußte es mehr vom Walde, als man nach seiner Größe vermuten konnte; ratsam war es jedenfalls, etwas zu tun, womit man den Wald versöhnte. Als das Nest fertig war, begab er sich darum tiefer in den Wald hinein, mit Unlust zwar, aber von dem Gefühl getrieben, daß es notwendig sei ein gegenseitiges stummes Einvernehmen zu erzielen.

Er schritt über den bewaldeten Hügel, der vom Walde wie eine Landzunge vorgeschoben wurde, kam auf der anderen Seite in ein Tal und stieg wieder über einen Hügel. Jetzt schloß der Wald sich hinter ihm, und er befand sich im tiefen Walddickicht, fühlte sich ganz in der Gewalt desselben, ging aber dennoch zögernd weiter, in der schwachen Hoffnung, daß etwas geschähe, was ihn dem innersten Wesen des Waldes Aug in Aug gegenüberstellen würde. Es geschah indessen nichts, und trotzdem war es ihm die ganze Zeit, als ob ihm etwas nah sei.

Als er ein Stück gegangen war, entdeckte er eine Lichtung im Walde, in deren Mitte eine große einsame Eiche stand; er war sich gleich bewußt, daß es ein mächtiger Baum sein müsse, alt und ehrwürdig, mit seinem ungeheuren Stamm und den langen, knorrigen Ästen; die Krone war ein ganzer Wald für sich. In der Nähe wuchsen mehrere seltsam schwarze und schiefe Bäume, krochen gleichsam über den Boden, unheimlich lebendig, mit Augen auf den Stämmen und schweren Gliedern; vor ihnen fürchtete er sich. Der alte große Baum aber rief keine Angst in ihm wach. Die ganze gewaltige Krone war ringsum von dichtem Laub verschlossen, und zwischen den Blättern wuchsen Eicheln wie eine Unzahl grüner Kinder, der Baum schwoll von Früchten, war sicher ein reicher Baum und gewiß der stärkste im Walde. Als Gast nah an ihn herangekommen war, sah er, daß der Stamm hohl war; der Baum hatte einen Riß im Leibe, und Gast folgte gleich einer Eingebung und legte sein bestes Flintsteinmesser, eine halbfertige Axt aus rotem Flintstein und fünf gute Fischangeln in die Höhle.

Er meinte, er habe richtig gehandelt, wenn er dem Walde die Gerätschaften opferte, die er gegen ihn selbst verwandt hatte, jetzt durfte er sicher aus dem Walde nehmen, was er gebrauchte; und er kehrte zuversichtlich zurück. Das letzte Stück aber lief er, denn es war nicht gut, den Wald im Rücken zu haben, wenn man allein war, und erst als er wieder im Freien war, atmete er auf.

Nachdem der schwierige Besuch im Walde überstanden war, begann Gast getrost Gras und Laub ins Nest hinaufzutragen. Es entstand eine richtige kleine Insel oben in dem luftigen Baum, die zwischen Himmel und Erde schwamm.

Eine weite Aussicht hatte man dort oben; auf der einen Seite das gewundene Tal mit dem Bach in der Mitte, und weit, weit hinten den Fjord, von wo sie gekommen, in dem eine lichtblaue Spiegelung des Himmels lag, und dahinter wieder in tieferem Blau das Meer, das sich in Nebelwolken verlor. Auf der anderen Seite aber erstreckte der Wald sich ins Land hinein, das grüne Kuppeldach der Kronen, Wald, Wald, soweit das Auge reichte. Ganz hinten am Horizont zeichnete er sich wie ein Wogenrücken am Himmel ab, und an der höchsten Stelle war die Waldmauer durchbrochen, eine Öffnung zwischen den Stämmen, durch die man den Himmel sah, eine ferne, blaue Pforte, von der schräge Luftsäulen über den Wolken zur Sonne ragten; sie meinten, es sei das Eingangstor zur weiten Welt, durch das auch sie einst ziehen wollten.

Als ihre Insel oben im Baum fertig war, ruderten sie noch ein gutes Ende den Bach aufwärts, um sich im Tale umzuschauen. Das Tal schnitt tief ins Land ein; an diesem Tage bekamen sie das Ende noch nicht zu sehen. Viel neue Dinge kamen ihnen entgegen, sie überraschten Vögel und Tiere, die sie noch nie gesehen hatten; der Bach offenbarte ihnen mehr und mehr von seinem Wesen, er war voll von Fischen, es blitzte zwischen den Schwärmen, wenn ein einzelner die untere Seite nach oben kehrte; auf dem Grunde schwammen die großen Fische, dicht unter der Oberfläche aber schwärmten Stichlinge in dichten Scharen. Auf seichtem Grunde stand der Hecht wie ein Stock mit seinem gestreiften Körper und dem häßlichen Gebiß, verschwand aber in einer Wolke von Morast, wenn man ihm zu nah kam; tief unten in dem braunen, sonnendurchleuchteten Schlamm, zwischen den Stengeln der Wasserrosen, schlängelten sich die Aale. Unter dem Steilufer entdeckten die Kinder kleine Höhlen, in denen Krebse steckten; man konnte sie ohne Schwierigkeit hervorziehen, nach all den weichlichen Fischen waren sie eine angenehme Abwechslung. Alles kosteten sie, jedes Ding hatte eine Seele, die ihnen in die Seele drang, der süße Schlammgeruch des Wassers, der kräftige Atem des Ufers, aus nassen Wasserpflanzen, Kalmus und Krauseminze vermischt; das üppige Gras der Wiesen hing bis übers Ufer, streute federleichten Samen zwischen das wiegende Schilf im Strom, und auf den Wiesen war eine dichte Wildnis von duftenden Pflanzen und Blumen, die von Bienen umschwärmt wurden, Blumennebel, wohin man sah; in den Weidengebüschen, die auf dem schwankenden Boden in kleinen Hainen wuchsen, lärmte es von Vögeln, die dort in Sicherheit mit ihren Nestern wohnten.

Der Tag war warm, die Sonne schien senkrecht in das schmale Boot, dessen Holz in der Sonne schwitzte und nach Gerbstoff roch; die Fische, die auf dem Boden des Bootes in der Sonne lagen, dufteten kräftig und süß, man selbst hatte einen Geruch wie von Feuer im Haar, und das nahe Wasser lockte, man tauchte unter in dem tiefen, kühlen Wasser, das auf die Glieder drückte und sie wieder nach oben schieben wollte, man bekam Wasser in den Mund und Wasser in die Seele, ah, der Bach war eine Wohltat. Und hinterher sonnten sie sich, verbrannten zwischen den Schulterblättern, den Kopf aber hatten sie mit einem Wasserlilienblatt geschützt. In ihrer Nähe rollte der Otter sich im Grase des Ufers; sein Pelz wurde über und über mit Blütenstaub bedeckt; feucht und flüchtig betrachtete er die beiden Unbekannten, nieste und schoß wie ein Wurm in den Bach.

In einer Bucht des Baches, ein Stückchen landeinwärts, sahen sie eine Wildsau wollüstig in einem Schlammloch auf die Seite gestreckt, mit einer Schar Ferkel auf sich, sie richtete das kleine rote Auge auf die beiden Kinder, als sie vorbeiruderten, rührte sich aber nicht. Der Fischadler schoß auf eine Breitung im Bach herab, brauste mächtig im Wasserspiegel und schwang sich wieder auf, mit einem Lachs zwischen den geballten Krallen.

Den ganzen Tag machten sie Entdeckungsreisen auf dem Bach; vor Abend aber waren sie wieder an der Quelle und begaben sich noch vor Eintreten der Dunkelheit in ihrem federnden, schaukelnden Bett aus Gras und Zweigen zur Ruhe, müde und satt, in jeder Weise befriedigt. Nachdem sie sich noch gut mit Gras zugedeckt hatten, besonders den Kopf, fühlten sie sich gegen alle Gefahren gefeit.

Bald schliefen sie sanft in ihrem luftigen Nest, von den Armen des hohen Baumes getragen, in Schlaf gewiegt, ohne daß sie es ahnten, von dem frischen Gras gleichzeitig lieblich gewärmt und gekühlt. Und im Schlafe glitten sie hinüber in eine andere luftige und schwebende Welt, wurden in tiefen, seligen Träumen durch unendliche, warme und kühle Dasein gewiegt und getragen.

 

Über ihrem Kopfe aber, ganz oben in der Krone des Baumes, bewachte ein Wesen des Waldes ihre Ruhe.

Das Eichhörnchen hatte sein Haus oben unterm Himmel, zwischen den gebrechlichsten Zweigen, die kaum stark genug waren, sein Haus zu tragen, darum aber auch unzugänglich für schwerere Tiere. Dort hatte es sich seine Wohnung zusammengeflickt, eine Sommerlaube, ursprünglich ein altes Krähennest, mit einem Dach aus Zweigen, Blättern und welkem Gras, inwendig mit Moos gefüttert, eine kleine Tür darin, alles ganz allerliebst, und dort schlief das Männchen des nachts; aber es hatte einen ganz leichten Schlaf, nichts entging seinen zottigen Ohren, gleich war es wach.

Anfangs war es beunruhigt, daß die beiden großen, schwanzlosen und nackten, hellroten und in jeder Beziehung verunstalteten und unbehenden Menschenkinder sich in seinem Baum auch ein Nest gebaut hatten; seine Neugierde aber war noch größer als seine Furcht, und da sie nun einmal da waren, interessierten sie es brennend. Tatsächlich war es nicht das erstemal, daß das Eichhörnchen mit Menschen eine Wohnung im Baum teilte, obgleich es sich dessen nicht eigentlich erinnerte, die Bekanntschaft saß ihm mehr im Blute. Hier nun waren zwei unbeschützte Menschenkinder zu den Bäumen zurückgekehrt, und das Eichhörnchen empfing sie, wie man ganz entfernte Verwandte empfängt, zurückhaltend, aber doch irgendwie von innen her angezogen; mit der Zeit wurden sie recht gute Freunde.

Durch seine Gesellschaft allein war das Eichhörnchen etwas für die Kinder, und auch die Kinder leisteten ihrem Hausgenossen gute Dienste; denn seit sie im Baume wohnten, ließen sich Marder und Wildkatze nie mehr sehen, auch die Raubvögel, die das Eichhörnchen von oben bedrohten, blieben fort, sie hatten vor den neuen Bewohnern Respekt. Der Luchs erschien eines Nachts; da aber begann das Eichhörnchen ganz furchtbar zu schreien und gebärdete sich wie wild, so daß Gast erwachte und rechtzeitig zwei grünlich funkelnde Augen ganz in seiner Nähe sah; er pflanzte seine Art mitten dazwischen, und der Luchs nieste, ließ sich herunterplumpsen und wurde seitdem nicht mehr gesehen.

Mit der Zeit wurden die Hausgenossen sogar sehr vertraut miteinander, das Eichhörnchen wurde so zutunlich, daß es ganz nah kam und den Kindern aus der Hand fraß. Das kleine Männchen fressen zu sehen, war ein großes Vergnügen; es setzte sich auf die Hinterbeine, nahm die Nahrung mit behenden Bewegungen zwischen die Vorderpfoten, untersuchte sie geschwind, kehrte sie hin und her, biß kurz entschlossen hinein und bewegte geschäftig die Lippen; die Zähne arbeiteten so schnell, daß man ihnen gar nicht zu folgen vermochte, es sträubte den Schwanz, nahm schnell noch einen Bissen; die langen, scharfen Vorderzähne arbeiteten, daß es eine Lust war, sie bohrten Löcher in Nüsse oder Eicheln, daß die Späne nur so flogen; Gast betrachtete den kleinen Zimmermann voller Bewunderung und wünschte sich solch gutes Werkzeug wie die vier vorzüglichen Meißel, die das Eichhörnchen im Maul hatte.

Wenn das Eichhörnchen aber satt war, war es interessant zu beobachten, wie es die Nahrung an der ersten besten Stelle aufbewahrte, in einer Spalte der Baumrinde, in seinem Nest oder sonstwo; zu anderen Zeiten holte es sich dann, was es aufbewahrt hatte, kam den Baum herabgesaust und begann eifrig an der Wurzel eines anderen Baumes zu graben, wo nicht das geringste Kennzeichen zu sehen war, und schwupp, hatte es eine alte vermoderte Nuß herausgefischt, die es dort vielleicht vor Monaten vergraben hatte und an die es sich gerade entsann. Man konnte von ihm lernen, daß es klug war, etwas aufzubewahren; Pil merkte es sich.

Pil liebte den kleinen flinken Kobold und versuchte ihn so nah an sich heranzulocken, daß sie sein feines Fell berühren und seine Wärme spüren konnte, aber greifen ließ er sich nicht, dazu war er zu flüchtig und zu empfindsam; kaum berührte sie ein einziges Haar, dann war er auch schon auf und davon; er war wohl zahm, hielt sich aber in seiner eigenen Luft auf, ein Geist im Walde, der sich hin und wieder sichtbar machte.

Wenn er aber seine Fliegeranfälle bekam, merkte man, was er trotz seiner Kleinheit für Kräfte besaß; es kam über ihn wie eine wichtige Mission oder vielleicht war es nur ein Spiel; jedenfalls machte er ohne erkennbare Ursache eine wilde Jagd von Baum zu Baum, flog in langen, verwegenen Bogen wie ein Vogel von einer Baumkrone zur anderen, schoß wie eine Flamme längs der dünnsten Zweige, und war es bis zum nächsten Baum zu weit, so landete er auf der Erde, galoppierte dort wie ein roter Wurm im Grase weiter, mit hochwogendem Schwanz, lief im nächsten Augenblick wieder an steilen Baumstämmen hinauf und warf sich von Ast zu Ast; im Handumdrehen war er tief im Walde verschwunden.

Gast und Pil wurden von seiner Fliegerlust angesteckt und versuchten ihm zu folgen, wenn die Äste einander so nah kamen, daß sie sie erreichen konnten; aber es ging nur mühsam von einem Baum zum anderen, sie boten nur ein klägliches Abbild des Eichhörnchens, waren zu schwer, zu langsam, zu vorsichtig. Aber es hatte einen eigenen Reiz, trotz Schwindel und Gefahr, von Baum zu Baum zu klettern, ohne die Erde zu berühren, es war wie ein holder Traum, die Welt von den Bäumen aus zu sehen; die luftige, täuschende Aussicht von oben war etwas Neues und gleichzeitig dunkel Erlebtes, sie wurden ganz trunken davon, vergaßen alles andere, waren in unendlichen Wäldern, unendlichem Sonnenschein, unendlichen Sommern, wenn sie sich darin übten von Baum zu Baum zu fliegen.

Auf diese Weise aber drangen sie mehr und mehr in den Wald ein. Wenn ihnen auf ihren Ausflügen, die immer länger wurden, etwas Ungewöhnliches begegnete, konnten sie sich jederzeit in die Bäume retten. Entfernungen legten sie unten auf der Erde zurück, ihre Beobachtungen aber machten sie meistens von den Bäumen aus, wo sie verborgen sitzen, aber selbst alles übersehen konnten. So wurde das Eichhörnchen ihnen ein Führer, der sie tiefer und tiefer in den Wald lockte und sie meilenweit mit ihm bekannt machte.

Über das Nest im Baum hatten sie nach dem Vorbilde des Eichhörnchens ein Dach gebaut, Pfähle hochgestellt und mit Blättern gedeckt, so daß sie dort geduckt sitzen konnten; von unten war die Hütte kaum zu entdecken; dort hielten sie sich des nachts auf, gegen Wind und Regen und alles Böse, was die Dunkelheit birgt, geschützt, dort wurden sie von den rauschenden Bäumen und dem luftigen Monolog des Waldes sanft in Schlaf gewiegt.

Sie kleideten sich in Bastmatten, die Pil mit geschickten Händen gewebt hatte; anfangs waren sie etwas hart und am Tage meistens überflüssig, morgens und abends aber leisteten sie ihnen gute Dienste. Pil putzte sich gern und jeden Tag auf andere Weise, bald mit wilden Blumen, immer eine neue Sorte, die sie im Walde oder Moor fand, bald mit Federn, die die Vögel verloren hatten und die sie sich ins Haar steckte; sie verschönte sich mit Quellocker, der auch hier zu finden war, und auch Gast verschmähte es nicht, sich mit einigen kräftigen roten Strichen im Gesicht zu schmücken. Sie waren stets beschäftigt, hatten immer etwas zu tun, keine Tageszeit war ohne Mühe oder Vergnügen, wenn sie auch nur die kleinen, spitzen Becher aus gewissen Blüten zupften und den kaum merkbaren Honigtropfen aus dem Grunde sogen. Auf den Wiesen fanden sie Hummelwohnungen, saugten die runden Zellen mit einem Strohhalm aus, legten sie wieder in die Wohnung und konnten später zu ihnen zurückkehren, wenn die Bienen sie von neuem gefüllt hatten.

Wenn aber die kleinen Beschäftigungen sie nicht mehr fesselten, begaben sie sich auf Entdeckungsreisen in die Bäume, tagelang, sie vergaßen ganz zu essen und zu trinken, und entbehrten es nicht. Von Tag zu Tag wurden sie vertrauter mit allem, was im Walde wohnte. Wenn sie einen Baum erstiegen und sich lange genug still verhalten hatten, beruhigte der Wald sich um sie her und begann sein tägliches, geschäftiges Leben, als ob sie gar nicht da seien. Sie sahen den Hirsch unter ihrem Baum vorübergehen, mit seinem langen, vollen Rücken; behäbig schlenderte er umher und knabberte an den Baumstämmen, leckte Blätter mit der Zunge ins Maul, ein großes, gesundes Tier, das eine eigene Lebenswärme ausströmte; den Kindern oben im Baum wurden die Augen feucht, so schön war der Geruch. Schreckten sie ihn aber, indem sie sich auf ihrem Ast bewegten oder zu laut miteinander flüsterten, gleich war er auf der Flucht, raschelte durch das Unterholz; bald sahen sie nur noch in der Ferne einen Schimmer von seinem Rücken, indem er mit hohen, schwebenden Sätzen zwischen den Bäumen davonsprang, selbst mit einem Baum auf dem Kopfe. Man brauchte nicht zu fragen, woher die Hirsche kamen, sie waren natürlich Seelen des Waldes, aus ihm entstanden; man sah oft geradezu, wie sie geboren wurden. Zuerst bewegten die Geweihe sich zwischen anderen Ästen, wurden lebendig – und plötzlich gebar der Busch den Hirsch; groß und stark stand er da wie eine Erscheinung, etwas Laubwerk saß ihm noch auf dem Kopf! Wie schön und reich die Hirsche waren, sicher vom Blute der Eiche, hatten sie doch Zacken wie die Äste der Eichen und waren so zahlreich und mächtig wie sie! Hirsche und Eichen waren die Herren des Waldes, das stand fest!

Tief im Tal aber, auf der Grenze zwischen Wald, Weide und pfadlosem Moor, machten sie die Bekanntschaft des Urochsen, beobachteten ihn, selbst ungesehen, von der Krone eines Baumes und verwunderten sich sehr über die gewaltigen Tiere, die zwischen großen Feldsteinen, die aus dem Waldboden ragten, standen oder lagen; hier wuchsen lauter hohe Kiefernbäume mit roten, abgeschälten Stämmen, und auf dem Boden Wachholder, Heidekraut und Bickbeeren; es war eine Anhöhe, die auf der einen Seite mit altem Nadelwald bestanden war und auf der anderen mit offenem, strauchbewachsenem Moor zum Bache abfiel. Die Urochsen hatten den Abhang aufgesucht; es war Mittagszeit und ihre Ruhestunde; die meisten käuten wieder und fächelten bedächtig mit dem Schwanz die Fliegen fort, man hörte, wie ihre Zähne im Maul knirschten. Sogar in der Nähe konnte man nicht immer unterscheiden, was Stein und was Ochse war; bisweilen erhob sich etwas, was ein jeder für einen großen Granitblock gehalten hätte, und wurde zu einer gehörnten Kuh; nicht unmöglich, daß die Erde und der steinige Boden sie selbst hervorgebracht hatten. Sie hatten lange, runde und geschwungene Hörner, die an den Neumond erinnerten. Wer weiß, vielleicht war es auch eine Kuh, die dort oben am Himmel ging. Als sie die Tiere zum erstenmal brüllen hörten, erkannten sie gleich den gewaltigen Ton, den sie gehört hatten, als die Sonne zum erstenmal für sie über dem Tal aufgegangen war, und den sie für die Stimme der Sonne gehalten hatten, eine Erfahrung, die keineswegs ausschloß, daß die Sonne nicht auch ein Ochse war. Woher sie aber auch stammen mochten, riesenhaft waren sie, und die beiden Menschenkinder auf dem Baume hüteten sich wohl, einen Laut von sich zu geben.

Wie vom Hirsch, ging auch vom Urochsen ein guter Atem aus, nur süßer; schon von weitem konnte man die Lebenswärme der schweren Tiere spüren, sie gaben Wogen von Milchgeruch von sich, die Luft um sie herum war dick von süßem Grasdunst; mit tiefen Stößen ging der Atem in ihrem Balg, es hallte davon in der Stille des Waldes wider. Heiß dufteten die Bäume im Sonnenbrand nach Harz, die Steine strömten moosigen und feuchten Geruch aus, die Erde selbst gab eine kräftige Seele von sich; ja, ja, im Heim der Ochsen war es fett und behaglich. In der Nähe der Kühe trieben sich die Kälber herum, kleine Ochsen mit weichem Maul und einem Hornansatz zwischen dem Stirnhaar, Dünger und Morast längs der Flanken, der stumpfe Schwanz immer in Bewegung. Man mußte sich oben auf dem Baum Gewalt antun, um sie nicht zu rufen und sich mit ihnen anzufreunden.

Anders war es mit den Wildschweinen, auf die man überall stieß. Sie waren sicher die Kinder düsterer Sumpflöcher im Morast, von dort kamen sie immer und waren selbst schwarz wie Morast; man sah sie im Dickicht herumstreifen, den Rüssel in der lockeren, schwarzen Erde vergraben, grunzend, das Maul voller Erde, von kleinen Ferkeln umschwärmt. Grimmig war der alte, bucklige Eber anzusehen mit seiner stachligen Mähne und den schimmernden, weißen Hauzähnen, die ihm wie Krummesser aus dem Maul ragten; Gast betrachtete sie mit Begehrlichkeit und wünschte, sie gehörten ihm.

Der Wohlgeruch aber, den die grunzende Familie ausströmte, war nicht berückend, man mußte sich die Nase zuhalten; wenn eine Herde unter dem Baum vorbeizog, wo Gast und Pil gerade saßen, machte es ihnen Spaß, mit vereinter Kraft zu brüllen und die Wirkung ihres Scherzes zu beobachten. Zuerst blieben die Schweine ganz dumm und wie angewurzelt stehen und versuchten mit ihren kleinen roten, feurigen Augen zu ergründen, was dieser häßliche Laut von oben bedeutete; dann aber suchten sie schleunigst Rettung durch die Flucht, Hals über Kopf, indem die Herde sich so dicht zusammendrängte, daß einige Tiere auf die Rücken der anderen gedrückt wurden. Die Ferkel kamen in einem verspäteten Galopp hinterher mit lautem Gekreisch, während die Alten tiefes, sumpfiges Gebrüll von sich gaben; die beiden Spottvögel oben aber fielen vor Lachen fast vom Baum.

 

Eines Tages aber bekamen sie Besuch vom Wolf. Er kam am hellichten Tage aus dem Innern des Landes angerannt, lang, schlotterig und außer Atem, und machte unter ihrem Baume halt; als er ihrer oben ansichtig wurde, hob er die Vorderpfote und schien just ihretwegen gekommen zu sein. Er reckte sich auf den Zehen und sträubte die Schnurrbarthaare leuchtenden Auges und ganz sonnig im Gesicht vor lauter Wohlwollen. Die Kinder glaubten schon, sie hätten ihm Unrecht getan; eigentlich hatten sie den Wolf ja noch nie in der Nähe gesehen, vielleicht hatten sie sich eine ganz falsche Vorstellung von seiner Natur gemacht. Wenn man mit ihm bekannt wurde, war er vielleicht ein ebenso guter Spielkamerad wie der Hund, und einen Hund entbehrten sie sehr. Glich er nicht täuschend einem Hunde?

Obgleich die Versuchung groß war, blieben sie doch auf ihrem Baum sitzen; wenn der Wolf es gut mit ihnen meinte, konnte er ja zu ihnen heraufkommen. Graubein blieb indessen wie gedankenverloren unten stehen, beleckte seine mageren Kiefer, zögerte viel länger, als eine harmlose Bekanntschaft ihm wert sein konnte. Die Kinder vertrieben sich die Zeit, indem sie zum Scherz Zweige und Stäbe nach ihm warfen; er blinzelte mit gelben, verschleierten Augen und stellte sich gut aufgelegt, biß scherzhaft nach den Wurfstücken und schien wie ein junger Hund spielen zu wollen, obgleich er ein alter, knochiger und erfahrener Racker war, er hüpfte kindlich, spielte mit den Pfoten, sah ganz gerührt aus und kläffte einschmeichelnd, kräuselte die dünnen Lippen zu einer Art Heiterkeit, machte sich so beliebt, daß die Kinder wirklich die größte Lust empfanden, herabzusteigen und den spieligen jungen Hund zu streicheln; sie sahen sich an, rutschten auf den Ästen, waren im Zweifel.

Der Verführer unten spielte immer verlockender, setzte zu Sprüngen an und drehte den Kopf nach ihnen um, als wollte er sie mit in den Wald locken; eines aber gefiel den Kindern nicht: sie merkten, daß er nicht so süß roch wie er lächelte, Geruch von altem Aas drang ganz bis zu ihnen herauf; außerdem sah der Wolf aus, als ob man sich an ihm stoßen könnte, die Rippen steckten ihm recht aus dem räudigen, grauen Balg; es verlohnte sich doch wohl kaum, zu ihm herabzusteigen, und sie blieben, wo sie waren.

Als der Wolf schließlich einsah, daß er die beiden nicht betören konnte, ließ er die Maske fallen, gähnte laut vor Langeweile und entblößte vier lange Reihen hungriger Zähne; Hunger und Mord leuchteten ihm unverhüllt aus den Augen. Nachdem er sich darauf auf seinen Schwanz gesetzt und geheult hatte, ein bitteres, unheimliches Klagelied, hob er das eine Hinterbein zum Baume, schüttelte sich den Staub von den Füßen und rannte weiter, lang, schlotterig und mit hängendem Schwanz, ohne sich ein einziges Mal umzusehen.

Die Kinder sahen sich an mit weißen Gesichtern, sie fühlten, daß sie am hellen Tage von der Nacht Besuch gehabt hatten. Wie der Wolf gejammert hatte, so klang es ja jede Nacht durch den Wald, und was sie für den Wald und seine übernatürlichen Mächte gehalten hatten, war, wenn man es genau betrachtete, nichts als ein alter, hungriger und enttäuschter Leichenfresser. Das hatten sie nun gelernt.

Gast blickte dem Wolf mit langen Augen nach, bis er im Walde verschwunden war – wenn er Pfeil und Bogen gehabt hätte! Vielleicht hätte er dem alten tückischen Umherstreifer eines aufbrennen und Pil einen neuen Perlenkranz von Wolfszähnen schenken können. Höchstwahrscheinlich war der Wolf so frech geworden, weil Pil ihre Kette der Quelle geopfert hatte.

 

Tags darauf saß Gast neben einem großen Stein in der Nähe der Quelle, den er sich als Arbeitsplatz gewählt hatte, und von seiner Werkstatt erklang das melodische Splittern von Flintstein; er hatte eine schwierige Aufgabe vor, verfertigte Pfeilspitzen, indem er passende Stücke zurechtschlug; viel zerbröckelte, bevor die Spitzen so waren, wie er sie haben wollte. Gast wollte sich Pfeil und Bogen machen. Bei den jungen Eschen war er schon gewesen und hatte sich geholt, was er brauchte; jetzt überlegte er, wie er sich Saiten verschaffen konnte, und streifte in Gedanken durch die nächste Umgebung, ob er irgendwo Rohr gesehen hatte.

Gast sah den Bogen schon vor sich und griff das Holz mit scharfem Flintstein an; das schlanke Eschenreis mußte mit Sorgfalt zurechtgeschnitten werden, damit der Bogen an beiden Enden geschmeidig wurde, und für die Saite mußten Einschnitte gemacht werden; er konnte es kaum erwarten, daß der Bogen fertig war, arbeitete wie besessen, sehnte sich nach der Saite, während er noch mit dem Bogenholz beschäftigt war, und sah den Pfeil vor sich, während er am Bogen arbeitete; er sah und hörte nichts.

Pil war mit ihrer Flechtarbeit beschäftigt und mußte Gast Bast für seine Saite geben; als er sie gespannt hatte, rief er sie und brachte den ersten strammen, singenden Laut mit den Fingern hervor, während sie lauschte; er lächelte mit dem Triumph des Erzeugers – war es nicht ein guter Klang? Neben ihm lag ein Bündel schlanker Rohre, die er sich am Ufer des Baches geholt und von ihrer Haut gesäubert hatte; daraus sollten die Pfeile gemacht werden.

Der Tag verging, und Pil flocht fleißig, während sie eifrig mit sich selbst flüsterte und mit raschen Bewegungen das Haar aus den Augen schüttelte; als sie sich wieder einmal nach Gast umsah, fand sie ihn düster und verschlossen, einen ganz anderen Gast als vorhin; er hatte Sorgen, denn als er den Bogen zum erstenmal stark spannte, war die Saite mit einem Knall gesprungen, hatte den plötzlichen Stoß nicht vertragen können. Nein, Bast taugte nicht, ohne daß man die Saite so dick machte, daß sie ihren Klang und ihre Geschmeidigkeit verlor, der Bogen aber mußte singen, sonst hatte er keine Seele. Daß eine Saite eigentlich aus Tierdarm verfertigt werden mußte, wußte Gast wohl, denn was in Darm eindringen sollte, mußte aus Darm gemacht werden; hier aber führten seine Pläne ihn im Kreise herum, denn wie konnte er ein Tier schießen und zu Darm gelangen, wenn er nichts besaß, womit er schießen konnte?

Vorläufig machte er darum eine Saite aus Haar, und Pil mußte herhalten, weil ihr Haar länger und feiner war als das seine; den Kopf auf einen Stein gelegt, fand sie sich fromm darein, daß er mit einem anderen kleineren Stein eine Haarsträhne durchsägte, und half ihm sogar die Saite zu flechten.

Sie erwies sich als haltbar und nicht übel im Klang. Daß sie aus Menschenhaar war, gab ihr eine besondere Bedeutung, Menschen, die ihnen begegneten, mochten sich hüten, alle behaarten Wesen mochten sich hüten!

Als der Bogen fertig war, spielte Gast Pil ein Stück darauf vor. Es klang einförmig, aber herrlich; er griff lange in die Saite, während Pil ihr Ohr daran legte und sich an der Musik erfreute. Das war Gasts erste Harfe. Später sollte er ein Sänger werden.

Vorerst aber dachte er nur daran, ein Jäger zu werden. Den ersten Pfeil schoß er geradewegs in den Himmel hinein; er stieg mit seinem Flintstachel höher als die höchsten Bäume, und nachdem er sich oben im Blau eine Weile umgesehen hatte, machte er kehrt und kam mit dem Stachel voran wieder zur Erde herab, und als Gast ihn nach längerem Suchen im Grase fand, stand er fingertief in der weichen Erde, den Schaft kerzengerade in die Höhe gerichtet.

Selbigen Tages kündigte er den Vögeln den Frieden. Mit der Zeit wurde er ein tüchtiger Schütze. Anfangs war der Bogen nur kurz, doch wuchs er mit Gast, und die Pfeile, zuerst aus Rohr verfertigt, wurden später aus Holz geschnitzt, lang und zäh. Gast hatte sich hier an eine Arbeit gemacht, mit der er nie fertig wurde; jeder neue Bogen, den er verfertigte, brachte eine Verbesserung. Gast wuchs, und der Bogen wuchs, wurde lang und geschmeidig, war bald kein Spielzeug mehr mit einem unschuldigen Klang, sondern eine gierige Stimme, die sich im Walde hören ließ.


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