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Sechstes Kapitel

Olga tröstete sich, begütigte sich, streichelte sich.

»Du hast es ja so gut, Olga. Hast du es gut? Die Leute auf der Gasse, die bücken sich tief vor dir; ›Euer Gnaden‹ schreit der Kutscher an der Bahn, selbst die Mutter kommt gekrochen, das kalte Herz ...

Daheim braten sie, sieden Zuckerln ein, bringen immer etwas zum Kosten. Selbst um die Iboya schmeicheln sie schon herum, warten aufs Geld, ich bin ihr Los in der Lotterie. Am Abend war die Mutter hier, die Alte, sie hat geklopft, sie merkt, daß der Richard krank ist, der arme, armselige. Schon denkt sie, die Mutter, an die Erbschaft ... die Iboya hat nichts gehört, sie weint ja die ganze Zeit, der gute Tolpatsch ...

Bei lebendigem Leibe wollen sie mich auffressen, aber niemanden laß ich ein. Beim Michalek, da war's anders. Das hätte es nicht gegeben, jemanden klopfen lassen draußen vor dem Tor ... der hohe geistliche Herr hätte ja vorüberwandeln können. Beim Michalek war stramme Wirtschaft, aufmachen mußte ich immer, wenn auch die Mädchen ausgezehrt waren wie der liebe Tod, spät am Morgen, schrecklich, bei helllichtem Licht.

Die späten Gaste, das sind richtige Räubergesellen. Mit den Röhrenstiefeln schlagen sie die »Toilett« in Scherben. In die Knie stoßen sie zum Jux die Mädchen, daß sie wackeln. Und dann ... ja, das war noch gut ... aber dann ... zwei Ohrfeigen rechts, zwei Ohrfeigen links, da hast, süßes Weiberl ... da zahle ich dir: vier Gulden, Kronen magst ja nicht ... willst du noch Strumpfgeld?

Und Michalek: »Gib immer her das Geld, hast du es versteckt unter der schmutzigen Wäsche? Keine Romane sollst du erzählen, Geld sollst du herzählen, mir in die Hand ... schnell, schnell!«

»Hier ist gut, Olga, hier ist schön, Olga, hier ist leicht, Olga, so selig wäre es ohne das. Aber jetzt ist auch alles schon wieder gut, wart' nur, guter, allgnädiger Herrgott...

Morgen ist dein Tag, weiß kleide ich mich an, du wirst mich sehen, vier Gulden nehme ich in die Hand, vier großmächtige Kerzen laß ich dir anzünden.

Jeden Tag laß ich neue, funkelnagelneue anzünden: ich weiß, du hast es gern, das Licht, es sind ja nur alte Sünden ... abgetragene, nicht der Rede wert.

Vier Dutzend Kerzen laß ich dir anzünden auf einmal! Mehr noch? Willst? Nimmst du mehr auch noch?

Geld klingle ich dir herein, sehr viel ... an einem Tag soviel wie die Geizhälse in der ganzen Woche. Der Richard soll sich plagen.

Du, du bekommst alles einmal, das ganze Geld. Dann aber mußt auch nicht so furchtbar sein mit mir, laß mich wieder ...

Vater Gottes, im Himmel, allgütiger Jesus, Vater der Gnaden ...«

Lange betete sie, gegen die eiserne Kassenwand klirrte der Rosenkranz, im dunklen, kühlen Abend dufteten süß die Zedernholzkugeln ...

Sie stand auf, beugte sich aus dem Fenster. Heimchen zirpten sommerlich, Kröten unkten in kalten, versumpften Wiesen ...

Weit lag die Straße vor ihr. Unten, rechts das letzte Haus war das Haus der Mutter, zwei Straßen mußte man gehen, dann kam sie zum Atelier der Schneiderin, der alten Scheune mit der Nähmaschine.

Aber mitten in der Stadt stand hoch die Reiterkaserne, im zweiten Stock war ihr Zimmer, Michaleks Zimmer, das eiserne Feldbett, ausgedientes Offizier-Kavalett Muster 1848 nannte es Michalek ...

Der Kamerad, der so schön, »so rührend lieb« Harmonika gespielt hatte, war längst bei der Finanzwache; das Nachtcafé, wo sie den ersten Champagner getrunken hatten, war gesperrt, die Offiziere durften nicht mehr hin, da einmal zwei Zivilisten durch einen sonderbaren Zufall das Gesicht zerschlagen bekamen, und diese Zivilisten auch sonst »schön zugerichtet« waren ...

Die Straße war menschenleer, bloß ein schwerfälliges Weib patrouillierte mit dem geduldigen Gang einer alten Stute. Sie war das »Laster des Ortes«; eine Reiß- und Klopfmaschine hatte ihr, als sie noch in der Knochenfabrik arbeitete, zwei Finger glatt abgehackt. Doktor Kühn, der gute Herr, hatte sich ihrer angenommen, mit Mühe und Not ihr eine Unfallrente herausgeschunden. Aber sie wollte jetzt hoch hinaus, lamentierte, »verlangte sich besser« ... Schmerzensgeld wollte sie unbedingt; jedem hing sie sich an, mit jedem ging sie, mit jedem ließ sie sich ein; ratenweise wollte sie ihr Schmerzensgeld einkassieren, von einem verlangte sie Wurst, vom andern Schnaps. Kleine Münze, die zufällig am Tisch lag, auch Kissen aus den Betten nahm sie mit, trug sie unter dem Arm, dumm lachend, heim, Bücher, die sie nicht lesen konnte, sogar Zündholzschachteln. So besserte sie sich ihr Leben auf, man schonte sie in Anbetracht ihres Unglückes ... Als sie wegen ihrer Diebstähle niemand mehr auch nur mit Handschuhen anpacken wollte, verwies sie der Portier des Gasthofes an die Fremden, flüsterte ihnen ins Ohr, mit trinkgeldlüsternen Augen gemein zwinkernd, »etwas Außergewöhnliches, eine herrlich schön gebaute Zigeunerin, frisch von der Pußta«.

Gott hatte die Zigeunerin gestraft. Erst hatte er ihr zwei Finger abgerissen, sie dann dem reisenden Gesindel ausgeliefert. Die Reisenden waren ja so schäbig, sie kannte sie, erinnerte sich vieler aus dem Hause 37.

Mit ihr, Olga, aber meinte es der liebe Gott doch gut, er warnte sie. Sie hätte hier bleiben sollen, Kirchenlichter kaufen, regelmäßig der Kirche etwas spenden, nicht aber zu Michalek fahren, Michalek das Geld in den Schlund werfen und dann in der Kirche Gott nur durch leere Gebete, ohne guten Willen, ohne Geldspenden, nur durch rachsüchtige, boshafte Gedanken aufmerksam machen auf sich.

Olga erwachte, vertrieb sich die Zeit, endlos zerzog sie die Zeit, pflückte sie auseinander, spitzte den Bleistift, wollte rechnen, sich zusammenhalten, vernünftig sein.

Noch war es zu hell vor den Augen.

Schlafen darfst du nicht, Olga, um Gottes willen, schlafen laß ich dich nicht; es ist auch zu weiß vor den Augen, schwarz muß es werden, ganz innerlich blind!

Iboya rief sie zu sich: ein kaltes Fußbad besorgen! starken Kaffee kochen! um Zigaretten laufen, aus der Kasernenkantine die Hände voll Zigaretten bringen, sofort, schnell, schnell!

Sie warf die Zigaretten vor sich auf den Tisch, stieß sie auf der Tischplatte auf, um die Tabakfasern aus dem Mundstück herauszukitzeln, damit sie ihr beim Rauchen nicht in den Mund kamen, sonst schmeckte die Zigarette wie Sand ... Franz hatte einst der Kathinka Sand in den Mund gestreut, das blatternarbige Mensch aus dem Schlaf gekitzelt ...

Kathinka aber hatte geschlafen wie ein Stein, sie war nicht zu erwecken ... das Haus 37, am Vormittag war es wie ein Stall, wo die Kühe schlafen ... das Haus 37, nun erschien es ihr nicht mehr bis an den Rand gefüllt mit Hitze, mit eilenden, keuchenden Menschen, die selbst glühten, nicht mehr durchrauscht von Musik, die aus den Winkeln hervorquoll ... nun sah sie es:

Fein spät in der Nacht, das Hauptgeschäft, die Hauptrackerei war vorüber; Michalek hatte das zweite Einmaleins glücklich hinter sich, machte Kasse: »Heute war's mal recht«, schlaftrunken grinste er, streckte beide Hände breit ausgehöhlt nach all dem Silbergeld ...

An ihm vorbei trampelten die Mädchen, eins nach dem anderen, in die Küche, rüttelten die Köchin auf, die schon schlief, und die den »Zigarettengestank« in ihrer Küche nicht leiden konnte, und neckten die Köchin mit endlosen Plaudereien ...

Wie herrlich war die letzte Zigarette vor dem Schlaf, die reine ausgekühlte Luft im Gelaß, das Rascheln der Betten ...

Erna und Milena, verliebte Schmeichelkatzen, warfen eine tönerne Sparbüchse, in der ihr Geld klirrte, lachend von Bett zu Bett, preßten sie dann, tief aufseufzend, in der ersten Umarmung zwischen sich ...

Schon dämmerte es: die ersten Wagen rasselten auf dem Ringplatz, heute war Markttag ... von ferne sah Olga den Platz mit den vielen Leiterwagen, von Leinwandplachen wie Himmelbetten überspannt ... dort waren hohe Haufen Obst, Pfirsiche und Trauben, quadratische Flaschen, je zehn Litern Aranka glosten wie Honig in dickem Gelb ... die bunten Hähne, zu zweit an den Füßen mit einem Band aneinander geknüpft, wurden an Hirtenstöcken hereingetragen, zehn Paar an einem Stock, dunkelrot geschwellte Kämme waren in einer einzigen Linie ... bildeten eine stramme Linie wie Soldaten, »gut ausgerichtet«.

Langsam verdunkelte sich vor Olga das Licht. Aber noch sah sie, noch war es nicht »außen schwarz, innerlich blind«.

Schwer saß sie da, von oben bis unten schwer, mit nur langsam dunkler werdendem Blut angefüllt:

Olga, den Mund ganz klein, wie gedörrt durch Hitze, den Rock eng, hart in Seide starrend, um die harten, starken Beine umgewunden.

Olga: heißen, glühend verkrampften Gesichtes.

Olga, in Angst vor dem Wahnsinn.

Der Rechtsanwalt atmete leise auf und nieder, knurrte, keuchte, rollte Schleim in der ausgemergelten Brust. Ganz gelb in den weißen Kissen richtete er sich auf, lächelte listig, schlängelte den blassen Mund: alles im Traum.

Mit schabenden Händen kratzte er sich, scheuerte seine mageren Rippen mit zitternder Hand, wandte die Steine der Ringe nach innen, kratzte wieder, seufzte lange im Schmerz; wieder schabte er von neuem, machte sich selbst Schmerz; am Morgen sah man langgezogene Wundmale auf seinem armen Körper.

So strafte ihn Gott.

Nein, sie selbst war noch lange nicht von Gott gestraft.

Er drohte nur, aber sie wollte ja zahlen, Geld, Gulden ... weiße Kerzen, weißes Licht.

Iboya kam, blond im Dunkel der nächtlichen Zimmer, mit unschuldigem Mund lächelnd, Ringe um die großen Augen. Aber es waren unschuldige Ringe, blaue, zarte, nicht dunkel-schwarze, wie dort, im andren Hause. Die dicke Tasse mit dem heißen Kaffee hielt Olga in der Hand, einen gespitzten Bleistift hatte sie da, Rechnungen zu schreiben ... Langsam dämmerte sie ein.

Schwarzrot war es vor ihr, rings um sie.

Dunkel karminrot waren die Kämme der Hahne, hellrot, wie frisches Blut die Augen der Hähne, kleine Ringelchen, lange Reihe von Ringelchen, eine ganze Kompagnie lang ... die mußten aufgereiht werden, wie ein Rosenkranz ... wer war das nur? ... wer wollte in die Augen mitten ein ganz kleines Loch bohren, bloß um die Schnur durchzuziehen? Eine Kerze mittendurch. Einen Finger mittendurch. Einen gespitzten Bleistift mittendurch. Endlich, ja, ja, endlich: »ein brennendes Zigarett« ... Den ersten Hahn, den zweiten ... den Nachbarsmann ...

Nach unten gebeugt, schlugen die armen Tiere um sich, suchten jappend nach Luft, lautlos klappten sie weit die Schnäbel auf, hackten nach der Zigarette, die darüber in der Augenhöhle steckte, weißrauchend ...

Vergebens krümmten sie sich nach oben, schlangen die Hälse in krummen Linien, wie Schlangen ... Aber das dicke Band um die Beine der Hähne ließ nicht locker. Grob wie Sand scharrten die Krallen, die ausgespreiteten Federbündel schabten an der Erde, Sand an Sand. In unbeholfenen Sprüngen hoben sich die gepaarten Hahne in die Höhe ... Vier weiße Zigaretten schmauchten weißen Dampf ... Vier Zigaretten steckten fest in den vier Augenhöhlen, in Soldatendoppelreihen gepaart. Wie die verketteten Tiere atmeten, so glimmte das Feuer auf und ab; in der lang hinkeuchenden Qual flammte es rot, glühte empor, flackerte jetzt wie Kerzenlicht.

Kirchenlicht, vier und vier, lange Reihen im langgestreckten Kirchenschiff, die Kerzen flackerten, standen unsicher in den Augenhöhlen, in den dunkelroten, ausgeronnenen Blutgruben, zwischen dem dicken, blutgefeuchteten Federngesindel, es zuckten die spitzen Köpfe, vier und vier, warfen die Kerzen durcheinander ... lange zischte es durch die spitzen Schnäbel:

»Gräßliches Leiden, gräßliches Leiden, gräßliches Leiden ...«

Lange noch zischte es, aber Olga erwachte; mit letzter Mühe, aufkeuchend, hatte sie sich aus dem Schlaf gerissen ... noch scharrten die Hände des Doktors am Körper, noch knirschten seine Fingerringe, mit den Steinen nach innen gewendet, über die mageren Rippen ... aber glückselig rauchte noch Olgas Zigarette, vor dem Einschlafen angezündet ...

Olga wand sich aus den Falten ihres schwerseidenen Kleides, Iboya flüsterte sie hinein, zu sich, ganz nahe an sich heran: Neuen Kaffee! Neues Bad! Eis aus der Apotheke ...

Draußen war es schon hell, die Apotheke längst geöffnet, in warmen Metallglanz dröhnten sonntägliche Glocken.


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