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Das unheilige Rußland

I.

Wohin geht Rußlands Weg? Die großen russischen Dichter geben auf diese Frage Antwort: sie sind die ewigen Wegweiser, die diesen Weg zeigen.

Tolstoi ist der letzte Wegweiser. Nach ihm ist niemand, als ob die Wege Rußlands zu Ende wären. Nach Tolstoi ist niemand, oder ... Gorkij.

Im Vergleich mit jenen Großen ist Gorkij klein. Klein ist alles, was geboren ist; groß alles, was gewachsen ist und sein Ende und sein Ziel erreicht hat. Groß erscheint die Vergangenheit, klein die Zukunft. Daher verhält sich Gorkij zu jenen Großen wie ein kleines Kind zu Erwachsenen, wie ein Keim, der eben aus dem Boden dringt, zu uralten Eichen. Sie beschließen aber einen Weg, und er beginnt einen neuen. Sie sind die Gegenwart und die Vergangenheit, er die Zukunft. Woher Rußland kommt, kann man nach ihnen beurteilen; wohin es geht, zeigt Gorkij.

Jene Großen verkörpern das Bewußtsein, das in die Tiefe des Volkes strebt; das Bewußtsein, das aus den Tiefen des Volkes kommt, ist in Gorkij verkörpert.

Das Bewußtsein herrscht über das Elementare. Ein Volk, das nach Bewußtsein strebt, ist ein Volk, das nach Herrschaft strebt. Das Erwachen eines Volkes zum Bewußtsein ist der Beginn der Volksherrschaft, der »Demokratie«. Gorkij ist der erste und heute noch einzige Vertreter der werdenden russischen Demokratie.

Die Gesichter jener Großen sind genial-persönlich und einzig; solche Gesichter hat es vor ihnen niemals gegeben und wird es auch nie mehr geben. Gorkij aber hat gar kein eigenes Gesicht; sein Gesicht ist das kollektive Gesicht eines ganzen Volkes. Doch die Wahrheit des Einzigen, die Wahrheit der Persönlichkeit (die »Aristokratie« im höheren Sinne) hat bereits ihre Vollendung erreicht; die Wahrheit aller, die Wahrheit der Vielen (die »Demokratie« im höheren Sinne) ist erst im Werden. Die letzte höchste Äußerung der Persönlichkeit sehen wir in jenen Großen; die erste, schwächste Regung der Allgemeinheit in Gorkij.

Uns erschreckt die Antlitzlosigkeit der Menge. Doch jeder Embryo ist antlitzlos, jedes Saatkorn ist gestaltlos, birgt aber in sich die Möglichkeit einer neuen herrlichen Gestalt, einer neuen vollkommenen Persönlichkeit. »Das Weizenkorn wird nicht lebendig, es sterbe denn«: der Einzelne muß sterben, wenn alle zum Leben erwachen sollen; die Persönlichkeit muß untergehen, damit die Vielen aufleben.

Jene Großen sind allzu kompliziert; darum streben sie auch mit solcher Gier nach Einfachheit, nach der elementaren Tiefe des ganzen oder auch nur des gemeinen Volkes. Gorkij ist allzu einfach; darum strebt er mit solcher Gier nach der bewußten oder auch nur unbewußten Kompliziertheit.

Als Künstler sind Tolstoi und Dostojewskij unendlich bedeutender. Man kann sie nach dem, was sie sagen, werten; Gorkij soll man aber nach seinen Worten nicht beurteilen: was er ist, ist viel wichtiger als was er sagt. Die bloße Möglichkeit einer solchen Erscheinung wie er, wie sie – (denn er ist eine Vielheit, oder wird einmal eine Vielheit sein) – diese bloße Möglichkeit ist für das Leben nicht weniger bedeutsam als das ganze künstlerische Werk eines Tolstoi oder eines Dostojewskij.

In seiner Bedeutsamkeit für das Leben ist er, der »Kleine« kein geringeres Symbol der Zeit als jene Großen. Vielleicht muß man heute ihm und nicht ihnen ins Gesicht sehen, wenn man unsere Zeit begreifen und die Frage, wohin Rußlands Weg geht, beantworten will.

 

II.

Vor einigen Jahren prophezeite man »das Ende Gorkijs«: In dieser Prophezeiung war eine Wahrheit und eine Lüge. Als Prophet des »allmenschlichen Barfüßlertums« ist Gorkij tatsächlich zu Ende. Der eine Gorkij ist zu Ende, der andere Gorkij fängt aber erst an.

Die schreckliche »Feuerprobe« – den falschen Ruhm – hat er überstanden, wie kein anderer. In die Höhe gehoben, stürzte er herab und blieb unverletzt. Er brachte, wenn auch unbewußt, etwas fertig, wozu nur die stärksten Persönlichkeiten unter den Russen fähig sind: er verbrannte alles, was er vorher angebetet, und fiel auf die Knie vor dem, was er vorher verbrannt hatte. Das, was er einst als die höchste Wahrheit bejaht hatte – »Mensch, wie stolz das klingt!«, »der Mensch gegen die Menschheit«, »der Eine gegen Alle«, – verneint er jetzt als die letzte Lüge. Er verneint und überwindet sich selbst. Ob es ihm auch gelingen wird, sich zu überwinden? Aber daß er sich überwinden will, ist schon allein ein Zeichen der Kraft. Es gehört eine große Kraft dazu, um zwei Leben zu leben, um zu enden und aufs neue zu beginnen. Nun sind ihm keine Feuerproben mehr schrecklich: das Eisen ist ins Feuer gekommen, und aus dem Eisen ist Stahl geworden.

Das fremde Gesicht – die prunkvolle Maske des »Übermenschen«, des »Auserwählten«, des »Einzigen« – ist vermodert, und Gorkijs ganz gewöhnliches Gesicht, das Gesicht des ganzen Volkes, ist sichtbar geworden.

Das Elementare wird durch das Halbbewußte zerstört. Wenn ein Mann aus dem Volke halbbewußt, »halb-intellektuell« wird, so wird er seinem Element, dem Volke untreu. So war es auch mit Gorkij, mit dem »ersten« Gorkij, dessen Ende schon eingetreten ist. Und der zweite, der »werdende« Gorkij kehrt zum Volke zurück, will jedenfalls zu ihm zurückkehren. Man kann aber nicht zu seinem Element zurückkehren, ohne das volle Bewußtsein erlangt zu haben, und dieses Bewußtsein muß unbedingt religiös sein, denn die Religion ist das absolute Ziel, die Vollendung und Erfüllung des Bewußtseins, die absolute Verbindung aller Teile des Bewußtseins zu einem Ganzen. Darum strebt auch Gorkij – vielleicht noch unbewußt – nach religiösem Bewußtsein. (Es klingt seltsam: unbewußt nach Bewußtsein streben; bei solchen halbbewußten Menschen wie er kommt es aber nicht selten vor.)

Daß dem wirklich so ist, daß es für Gorkij keinen anderen Weg zum Volke als durch das religiöse Bewußtsein gibt, ersieht man aus seinem letzten Buche »Kindheit«.

Dieses Buch ist nicht nur künstlerisch eines der besten ewigen russischen Bücher (vielleicht wird es heute darum nicht gebührend geschätzt, weil es ein ewiges Buch ist?), sondern auch eines der bedeutendsten im religiösen Sinne. Die Frage, wie der einfache russische Mensch seinen Gott sucht, wird in der »Kindheit« Gorkijs vollkommener beantwortet als in irgendeinem andern russischen Buch, die Werke Tolstois und Dostojewskijs nicht ausgenommen.

Unser religiöses Bewußtsein ist ganz von Tolstoi und Dostojewskij erfüllt, wir können uns von ihnen gar nicht frei machen. Gorkij hat sich aber frei gemacht. Als Erster und Einziger betrachtet er das religiöse Leben des Volkes nicht nur von Tolstoi und Dostojewskij unbeeinflußt, sondern sogar in direktem Widerspruch zu ihnen. Bei Gorkij ist dieses ganze Gebiet unerforscht, unerwartet, unvorhergesehen, – wir stehen vor einer ganz neuen religiösen Welt.

Könnte auch ein völlig unreligiöser Mensch dahin kommen? Ist es denn ein bloßer Zufall, daß das Wahrste, Stärkste und Ewigste von allem, was Gorkij geschrieben hat, zugleich auch das Religiöseste ist?

In seinem »intellektuellen« Bewußtsein oder Halbbewußtsein verwirft er die Religion. Aber zwischen seinem intellektuellen Bewußtsein und seinem echt volkstümlichen Wesen besteht ein unlösbarer Widerspruch. In diesem Punkte, d. h. im Religiösen, verneint und überwindet er sich selbst mit größter Kraft und unter tiefster Qual. Es handelt sich hier für ihn darum, ob er zum wahren Propheten dessen, wonach Rußland heute strebt, werden kann: zum Propheten der Volksherrschaft, der »Demokratie« im echten, religiösen Sinne des Wortes.

»Man braucht keine Religion, man braucht keinen Gott!« sagt das intellektuelle Bewußtsein Gorkijs. Aber sein im Volke wurzelndes tiefstes Wesen sagt:

»In jenen Tagen (der Kindheit) waren die Gefühle und Gedanken an Gott die wichtigste Nahrung meiner Seele ... Gott war das Beste und Lichteste von allem, was mich umgab.«

So war es in der Kindheit, zu Beginn des Lebens. Wenn der Kreis sich schließt, berühren sich Anfang und Ende. Mit Gott hat bei Gorkij alles begonnen; wird vielleicht auch alles mit Gott enden?

Sein Gott ist »der Gott seiner Großmutter«. Die Großmutter des kleinen Helden der »Kindheit« Aljoscha Pjeschkow Maxim Gorkij ist bekanntlich nur ein Pseudonym; sein bürgerlicher Name lautet Alexej (Aljoscha) Pjeschkow. Anm. d. Ü. (Gorkij verheimlicht nicht, daß dieser Aljoscha er selbst ist) ist seine geistige Mutter: sie hat ihn geboren, geschaffen, zum Menschen gemacht, beschützt und bewacht, als er noch ein Kind war, beschützt ihn auch jetzt, und wird vielleicht bis an sein Ende über ihn wachen.

»Ohne sie hatte ich wie im Schlafe, wie in der Finsternis dahingelebt; sie kam und weckte mich, zeigte mir den Weg ins Leben ... und wurde gleich vom ersten Augenblick an zu meinem nächsten und besten Freund für mein ganzes Leben.« Für das ganze Leben – für alle Ewigkeit. Wenn dem so ist, so ist nicht nur die Großmutter, sondern auch »der Gott der Großmutter« das Beste und Lichteste in seiner Kindheit, zu Beginn seines Lebens, und wird es auch für »sein ganzes Leben«, für alle Ewigkeit bleiben.

Die Großmutter ist bis zur feinsten Runzel ihres Gesichts lebendig und wirklich; sie ist aber nicht nur eine wirkliche Person, sondern auch ein Symbol, und in der ganzen russischen Literatur – Tolstoi und Dostojewskij wiederum nicht ausgenommen – ist vielleicht kein bedeutsameres Symbol, keine synthetischere Gestalt zu finden.

Die Großmutter ist Rußland selbst in seinem tiefsten nationalen und religiösen Wesen. Sich von der Großmutter lossagen, heißt, sich von Rußland lossagen. Dies wird aber Gorkij niemals tun; selbst wenn er es wollte, brächte er es nicht fertig. Wie leidenschaftlich er sich auch von der Religion lossagt, wie gottlos er von ihr spricht, wie unbewußt, oder, was noch viel schlimmer ist, wie halbbewußt er den religiösen Dingen gegenübersteht, – er wird sich doch niemals von seinem wahren, in der Tiefe des »christlichen« Bauernvolkes wurzelnden Wesen lossagen. Und wenn die Großmutter tatsächlich Rußland ist, so ist alles, was er von sich und von ihr erzählt, mehr als eine Erzählung aus seinem Leben, sogar mehr als eine Beichte, – es ist eine Predigt, eine Weissagung von den Wegen, die Rußland gehen wird.

»Ihre selbstlose Liebe zu der ganzen Welt hat mich bereichert, hat mir eine zähe Kraft für mein ganzes Arbeitsleben verliehen.«

»Die Liebe zu der ganzen Welt« ist die Religion der Großmutter, die Religion Gorkijs. Was ist das für eine Religion? Die christliche? Die Christen sind aber »nicht von dieser Welt«: »Habt nicht lieb die Welt, noch was in der Welt ist«; »die Liebe zu der Welt ist die Feindschaft gegen Gott«. Die Großmutter liebt aber die Welt und Gott zugleich. Für die Christen bedeutet das »Himmlische« – das »Unirdische«; wer den Himmel liebt, haßt die Erde. Die Großmutter liebt aber den Himmel und die Erde zugleich. Wie sollte sie auch die Erde nicht lieben, wenn sie die Erde selbst ist?

»Eine gute Großmutter hast du, sie ist so gut wie die Erde!« sagt jemand über sie zu ihm.

»Du bist mir die wahre Mutter, wie die Erde!« sagt jemand zu ihr selbst.

Aljoscha Pjeschkow hörte diese Worte, und Gorkij merkte sie sich für »das ganze Leben«, für alle Ewigkeit. Die »Liebe zu der Erde«, das Geheimnis der Erde hat ihn ja auch mit der Großmutter, mit ihrem volkstümlichen Wesen verbunden, denn das Geheimnis des Volkes ist das Geheimnis der Erde.

Wenn Christus und das Christentum gleichbedeutend sind, wenn im Christentum alles abgeschlossen, ausgesprochen und vollendet ist – wenn es nur das enthält, was schon ist, und nicht auch das, was noch kommen kann, – so ist die Religion der Großmutter weder die christliche noch die Religion Christi. Dann hat der Großvater, der orthodoxeste der Orthodoxen, recht:

»Höre nicht auf sie, die alte Närrin! Sie ist von Kind auf dumm, unwissend und närrisch.«

Wenn aber Christus mehr ist als das Christentum; wenn das Christentum nicht nur das, was schon ist, sondern auch das, was noch kommen wird, enthält, so ist die Religion der Großmutter, wenn auch vielleicht keine christliche, so doch die wahrhafte Religion Christi.

Die Großmutter ist durchaus keine Heilige; sie ist eine Sünderin, eine »Verdammte«. Sie tanzt und singt gern, schnupft Tabak und trinkt Schnaps. Und wenn sie etwas angetrunken ist, so ist sie »noch besser«.

»Gott, Gott! Wie schön ist alles! Schaut nur, wie schön alles ist!« sagt sie, wenn sie angetrunken ist, wie im Gebet.

Sonst versteht sie aber gar nicht ordentlich zu beten.

»Wie oft habe ich dich, du Bauernschädel, gelehrt, wie man beten soll? Du stammelst aber bloß etwas vor dich hin, du Ketzerin, verdammte Tschuwaschin!« Die Tschuwaschen sind ein noch halb heidnischer finnisch-tatarischer Volksstamm an der mittleren Wolga. Anm. d. Ü.

Sie stammelt etwas Eigenes, was nicht kirchlich, nicht orthodox, vielleicht auch gar nicht christlich ist; es ist etwas »Willkürliches, Seltsames und Unerhörtes«, und ihre Gebete erscheinen dem orthodoxen Großvater gotteslästerlich. Sie spricht »eindringlich« zu Gott: bald erteilt sie ihm »Ratschläge«, bald »murrt« sie gegen ihn, empört sich und kämpft gegen ihn: »Herr, hast Du denn zu wenig guten Verstand gehabt, um mir und meinen Kindern davon zu geben? ...« Bald bemitleidet sie den Herrn, der »allem Lebenden gut Freund« ist, der allgütig, aber nicht allmächtig und nicht allwissend ist: »Wenn Du alles wüßtest, so würden die Menschen gar manches nicht tun!« – »Er, unser Vater blickt vom Himmel auf die Erde, auf uns alle herab und fängt wohl manchmal zu weinen und zu klagen an: ›Ihr Menschen, meine lieben Menschen! Wie tut ihr mir doch leid!‹« Dieser weinende Gott ist eben ihre »Narrheit«, ihre »Unwissenheit«. Ist aber das Lamm, das von Anbeginn der Zeiten sein Blut vergießt, nicht auch ein Wahnsinn? Nur daß der eine Wahnsinn alt und allen gewohnt, der andere aber neu und ungewöhnlich ist.

Die Großmutter versteht nicht ordentlich zu Gott und zum Sohne Gottes zu beten; in der Menschensprache gibt es aber keine schöneren Gebete als ihre Lobgesänge auf die Muttergottes.

»Unerschöpfliche Freude ... Blühender Apfelbaum ... Reines, himmlisches Herzchen ... Goldene Sonne ...«

Nein, das kann man nicht wiedergeben, man muß es selbst gehört haben. Am erstaunlichsten ist aber, daß es weder der christliche Tolstoi noch der orthodoxe Dostojewskij, sondern der »gottlose« Gorkij war, der dieses Unerhörte, im Herzen des Volkes, im Herzen der Erde Verborgene erlauscht hat.

Was die »Muttergottes« ist, weiß die Großmutter nicht zu sagen. Wenn man sie danach fragte, würde sie auf das Bild der Kasanschen, Tichwinschen, Fjodorowschen oder auf irgendein anderes in der betreffenden Stadt besonders verehrtes Muttergottesbild weisen. So ist es in ihrem Bewußtsein, aber nicht in ihrem unbewußten religiösen »Wissen«, in ihrer »Gnosis«.

»Du bist mir die wahre Mutter, wie die Erde!« könnte sie zu der Muttergottes sagen, wie jemand zu ihr sagte. Oder wie bei Dostojewskij (in den »Dämonen«) eine Seherin spricht: »Die Muttergottes ist die große feuchte Mutter Erde.« Das Geheimnis der Mutter ist das Geheimnis der Erde.

Die dogmatische christliche Dreieinigkeit besteht aus Vater, Sohn und Geist; die scheinbar unchristliche, »ketzerische« Dreieinigkeit der Großmutter aber aus Vater, Sohn und Mutter. Das unenthüllte, unerkannte, unvollendete Antlitz des Geistes ist das Antlitz der Mutter Erde.

Im ersten Bunde war der Vater; im zweiten ist der Sohn; wird nicht im dritten und letzten der Geist sein? Die Erscheinung des Geistes ist das Heilige Fleisch, die Heilige Erde, die Ewige Mutterschaft, das Ewig-Weibliche. Wenn die Offenbarung des Vaters die Liebe zu der Welt (das Irdische, Natürliche, Kosmische in den vorchristlichen Religionen) ist; wenn die Offenbarung des Sohnes – die Liebe zu Gott (das überirdische, Antikosmische, das »nicht von dieser Welt« im Christentume) ist, – so ist die Offenbarung des Geistes die Liebe zum Himmel und zur Erde, zu der Welt und zu Gott zugleich. Das ist ja aber die Religion der Großmutter. Dazu bekennt sich also die »alte Närrin, die Unwissende und Wahnsinnige«.

Lermontow, Tjutschew, Nekrassow, Ssolowjow und Dostojewskij Tjutschew (1803–73) ist der tiefsinnigste Dichter-Philosoph Rußlands; Wladimir Ssolowjow ein höchst origineller Denker, Dichter und »Gottsucher«. Lermontow, Nekrassow und Dostojewskij sind wohl dem Leser bekannt. Anm. d. Ü. und alle, die ihnen folgen – die russischen Vertreter eines höheren religiösen Bewußtseins – bekannten sich zu derselben. »Es ist etwas furchtbar Wahres, etwas furchtbar Russisches darin«, sagte jemand von der Religion der Großmutter.

Hier berühren sich Höhe und Tiefe – die Höhe des russischen religiösen Bewußtseins und die Tiefe der dem russischen Volke innewohnenden elementaren religiösen Kraft. Und am erstaunlichsten ist wiederum, daß es weder der christliche Tolstoi noch der orthodoxe Dostojewskij, sondern der »gottlose« Gorkij war, der diesen Berührungspunkt, und wenn auch nur mit blinden Augen suchend, entdeckt hat.

Er haßt und verachtet die russischen intellektuellen »Gottsucher«, nähert sich aber dabei ihnen mehr als jemand anderer; er entdeckt in seinem volkstümlichen Element dasselbe, was sie in ihrem intellektuellen Bewußtsein entdeckt haben. Sie sprechen verschiedene Sprachen, sagen aber dasselbe.

 

III.

Die Großmutter ist Rußland, aber nicht das ganze Rußland, denn »Rußland hat zwei Seelen«; diese Worte sind wohl die weisesten von allen, die Gorkij je gesprochen hat. Die eine Seele Rußlands ist die Großmutter, die andere aber der Großvater.

Die Großmutter ist schön, der Großvater abstoßend häßlich. Die Großmutter hat einen gütigen Gott, der »allem Lebenden gut Freund« ist; der Großvater aber – einen bösen. Wenn der Gott der Großmutter der wahre ist, so ist der des Großvaters gar kein Gott, sondern der Teufel.

So oder beinahe so verhält es sich für Aljoscha Pjeschkow; aber anders oder beinahe anders für Gorkij. Dieser weiß bereits, daß die Großmutter nicht die ganze Wahrheit besitzt, daß auch der Großvater seine eigene Wahrheit hat, eine ebenso ewige, »furchtbar wahre, furchtbar russische« Wahrheit.

Der Großvater war aber nicht immer ein böses Ungeheuer gewesen.

»Einst war er ja gut; als er sich aber einredete, daß er klüger sei als alle, wurde er böse und dumm.«

Er war gut; vielleicht wird er einmal wieder gut werden; vielleicht ist es nicht nur seine Schuld, sondern zum Teil auch die Schuld der Großmutter, daß er böse und dumm geworden ist.

»Der Großvater hat mich einmal an einem Ostersonntag den ganzen Tag von der Morgenmesse bis zum Abend geprügelt. Er prügelte mich, bis er müde wurde, ruhte dann etwas aus und fing von neuem an. Er prügelte mich mit der Pferdeleine und auf jede andere Weise.«

»Wofür?«

»Ich weiß es nicht mehr ...«

Die Großmutter war doppelt so groß als der Großvater, und es schien kaum glaublich, daß er mit ihr fertig werden könne.

»Ist er denn stärker als du?«

»Er ist nicht stärker, aber älter ... Er wird es vor Gott zu verantworten haben, mir aber sind Leiden befohlen

Selbst der kleine Aljoscha fühlt, daß mit der Großmutter etwas nicht in Ordnung ist. »Oft hatte ich den Wunsch, daß sie irgendein lautes Wort sage, daß sie wenigstens aufschreie.« Sie wird aber niemals ihre Stimme erheben, sie wird bis an ihr Ende schweigen und dulden. Und je mehr die Großmutter dulden wird, um so böser und dümmer wird der Großvater werden.

Die Großmutter ist keine Heilige, aber »beinahe heilig«, und ihr Vergehen besteht nicht in der Sünde sondern in der Heiligkeit: je heiliger sie selbst ist, um so sündiger ist alles um sie herum.

Sie weiß viel und kann nichts; sie sieht viel und tut nichts. Der Großvater aber weiß und tut; er weiß wenig und tut schlecht; in Rußland gibt es aber so viel Beschaulichkeit und so wenig Tätigkeit, daß es besser ist, wenn einer etwas schlecht tut, als wenn er überhaupt nichts tut.

Die Großmutter ist riesengroß, aber weich und sanft, als hätte sie keine Knochen im Leibe. Der Großvater ist klein, aber kräftig und spitzig wie eine Fischgräte. Und doch hat er die Riesengroße verschlungen; ihn aber kann niemand verschlingen: er bleibt einem wie eine Fischgräte in der Kehle stecken.

Die Großmutter ist schrankenlos und antlitzlos. Der Großvater ist beschränkt, dafür hat er ein Gesicht, und wenn auch ein halbtierisches; immerhin ist es ein Gesicht, der Keim einer Persönlichkeit.

In der Großmutter ist das »dionysische«, im Großvater das »apollinische« Prinzip verkörpert. Die Großmutter ist trunken, der Großvater nüchtern.

Die Großmutter macht Rußland zu einem maßlosen und schrankenlosen; der Großvater mißt es und sammelt alles in seine schreckliche Faust; ohne ihn würde alles auseinanderfallen und auseinanderfließen wie Sauerteig.

Und überhaupt: wenn das »Heilige Rußland« nur die Großmutter allein ohne den Großvater wäre, so wäre es nicht etwa von den Petschenegen, Polowzen, Petschenegen und Polowzen – türkische Nomadenvölker, die die Russen im IX. und X. Jahrhundert bedrängten. Anm. d. Ü. Mongolen sondern vom eigenen Ungeziefer bei lebendigem Leibe gefressen worden.

Die Großmutter ist das alte, nach Osten gewandte Rußland; der Großvater ist das neue Rußland, das nach Westen schaut. Die Großmutter ist unwissend; der Großvater halbwissend; wenn aber Rußland einmal wissend sein wird, so doch nur dank dem Großvater und nicht der Großmutter.

Die Großmutter ist »ketzerisch« und »widerspenstig«, doch nur in Worten; sie handelt aber nicht nach ihren Worten, weil ihr »Leiden befohlen sind«. Der Großvater ist vorläufig noch orthodox und hält an der Autokratie fest. Auch er leidet, weil seine Arme noch zu kurz sind, um sich zu wehren. Wenn ihm aber die Arme wachsen, wird er nicht länger dulden. Wenn jemand jemals Revolution macht, so wird es natürlich der Großvater sein und nicht die Großmutter.

»Halte dich an deine Großmutter,« rät jemand dem kleinen Aljoscha. Gorkij folgt diesem Rat: er hält sich fest an die Großmutter, noch fester aber an den Großvater. Und wenn er im Feuer zu Stahl geworden ist, so hat er es nicht der Großmutter, sondern dem Großvater zu verdanken.

Großmutters Wahrheit – das »Heilige Rußland« – ist leicht zu erfassen: sie strahlt hell und ist allen sichtbar; aber Großvaters Wahrheit – das »Unheilige Rußland« – erfaßt man nicht so leicht: sie schimmert durch das tierische Antlitz nur ganz schwach hindurch. Tolstoi und Dostojewskij haben diese Wahrheit nicht begriffen, weil sie sie von der Seite, von außen betrachteten; Gorkij begriff sie, weil er sie von innen sah.

 

IV.

Von den beiden Seelen Rußlands erzählt die »Kindheit«. Das gleiche Thema behandelt Gorkij auch noch in einem Aufsatz, den er wohl nicht ganz zufällig gleichzeitig mit der »Kindheit« geschrieben und »Zwei Seelen« betitelt hat.

Rußland hat zwei Seelen: eine asiatische, östliche und eine europäische, westliche. Im Osten herrscht die Religion, im Westen – die Wissenschaft. Die Religion bejaht das, was es nicht gibt (die Existenz Gottes, das Leben nach dem Tode und sonstige »abergläubische Hirngespinste«); die Religion ist Lüge. Die Wissenschaft bejaht aber das, was es gibt (»die Naturgesetze«); die Wissenschaft ist Wahrheit. Rußland geht zugrunde oder steht am Rande des Abgrundes, weil es zwischen den beiden Seelen – der asiatischen und der europäischen – schwankt. Es kann sich nur dann retten, wenn es zu schwanken aufhört und sich für das eine entscheidet: es muß sich vom Osten, von der religiösen Lüge lossagen und sich dem Westen, der wissenschaftlichen Wahrheit hingeben.

So einfach ist das also! So kindlich und einfältig – könnte man sagen, wenn es sich nicht um Gorkij handelte.

Lohnt es sich überhaupt, dem zu widersprechen? Braucht man erst zu beweisen, daß man zwischen den abergläubischen Hirngespinsten und der religiösen Erfahrung kein Gleichheitszeichen setzen darf? Daß nach der Kantschen »Kritik« alle Versuche, auf Grund wissenschaftlicher Forschung und philosophischer Spekulation die Existenz oder die Nichtexistenz Gottes zu beweisen, im gleichen Maße einfältig sind?

Wenn Gorkij dogmatischer Atheist ist, so darf er nicht vom »wissenschaftlichen Denken« als vom einzigen Werkzeug der Erkenntnis sprechen; jeder Dogmatismus, ganz gleich, ob der bejahende oder der verneinende, jeder Glaube an die Existenz oder die Nichtexistenz Gottes widerspricht den Gesetzen des »wissenschaftlichen Denkens«. Wenn er aber Agnostiker und Positivist ist, so darf er nicht das »Unerkannte« mit dem »Unerkennbaren« verwechseln! Ein Blick in die »Ersten Prinzipien« Spencers, des Schöpfers des Agnostizismus, hätte ihn belehrt, daß die Unerkennbarkeit des »Unerkennbaren« in der Natur der wissenschaftlichen Erkenntnis selbst begründet ist. So groß ist also die philosophische Unwissenheit Gorkijs.

Seine historische Unwissenheit zeigt er dort, wo er den religiösen Osten dem wissenschaftlichen Westen gegenüberstellt und die beiden als zwei gleiche, entgegengesetzt wirkende Kräfte der Weltgeschichte betrachtet. Wenn man die Religion in unserm europäischen Sinne als den Theismus, als die Bejahung Gottes auffaßt – und so faßt sie Gorkij auf – so ist Asien in seinem überwiegenden Teil areligiös und atheistisch, denn der Buddhismus ist der reinste Atheismus. Das Morgenland ist nur dort, wo es sich mit dem Abendlande berührt, in unserem europäischen, d. h. theistischen Sinne religiös (Zoroastrismus, Judaismus, Islam); je mehr es sich aber vom Abendlande entfernt, um so atheistischer ist es. Alle Religionen, übrigens auch alle wissenschaftlichen Systeme (die ägyptischen und assyrisch-babylonischen Grundlagen der griechisch-römischen Wissenschaft) werden im Morgenlande geboren, gelangen aber nur im Abendlande zur Blüte und Reife. Der Samen ist im Osten, die Blüte und die Frucht im Westen. Dort ist die religiöse Vergangenheit der Menschheit, hier ihre Gegenwart und Zukunft. Das Christentum wurde im Osten geboren, ist aber im Westen groß geworden. Und wenn das Christentum eine wesentlich weltumfassende Religion ist, so ist nicht der Osten, sondern der Westen wesentlich religiös.

Seine psychologische Unwissenheit zeigt Gorkij dort, wo er die Religion, als eine absolute Kontemplation, der Wissenschaft, als einer absoluten Aktivität, gegenüberstellt. Die Religion ist entweder nichts, ein »Hirngespinst«, oder aber die höchste Äußerung des menschlichen Willens; der menschliche Wille aber ist die einzige Quelle der Aktivität. Die Vernunft leuchtet und lenkt, der Wille aber beschließt und handelt. Darum ist eine willenlose und tatenlose Religion dasselbe wie ein nichtbrennendes Feuer: das Feuer hört zu brennen auf, wenn es erlischt; und die Religion wird erst dann tatenlos, wenn sie aufhört, Religion zu sein. Und umgekehrt: die Wissenschaft wird nur dann aktiv, wenn sie aufhört, Wissenschaft zu sein und zu einer »Religion« wird, indem sie sich, und wenn auch unbewußt, von der Vernunft zum Willen wendet. Um zu handeln, muß man das Ziel wollen oder kennen; die Wissenschaft rechnet aber weder mit Zielen, noch mit dem Gewollten, sondern nur mit dem Gegebenen.

Die Religion unterjocht, nach Gorkijs Ansicht, die Persönlichkeit, die Wissenschaft befreit sie. Doch schon der bloße Begriff der »Persönlichkeit« ist mit dem Begriffe der »Freiheit« innigst verbunden; die Wissenschaft kennt aber keine Freiheit: das Gesetz der Notwendigkeit, der Determinismus ist das Grundgesetz des wissenschaftlichen Denkens. Daher kennt die Wissenschaft keine »Persönlichkeiten« sondern nur unteilbare »Individuen« der unpersönlichen »Arten« und »Spezies«. Der Begriff der »Persönlichkeit« ist ebenso wie der Begriff der »Freiheit« durchaus nicht wissenschaftlich, sondern religiös. Um die Persönlichkeit zu bejahen, muß man die Freiheit bejahen und das Gesetz der Notwendigkeit in seinem äußersten Punkte, nämlich im Tode, als der Vernichtung der Persönlichkeit, überwinden. Das tut auch das Christentum, die Religion der absoluten Freiheit, der absoluten Persönlichkeit.

Von allem, was Gorkij über die Religion sagt, ist nur eines richtig: nämlich, daß die Religion »gefährlich« ist. Aber jede Kraft ist gefährlich: je größer eine Kraft, um so größer ihre Gefahr; die Religion ist die größte Kraft und daher auch die größte Gefahr. Und wenn das Feuer auch eine Feuersbrunst hervorrufen kann, so folgt daraus noch nicht, daß man ohne Feuer leben soll.

 

V.

Wenn Gorkij von der Religion spricht, so weiß er also gar nicht, wovon er spricht. Wichtig ist aber nicht das, was er weiß und was er nicht weiß, sondern was er will und was er nicht will.

Er will die Religion nicht, weil er die Welt lieben will und weil jede Religion eine Feindschaft gegen die Welt ist.

Nun, und wie verhält es sich mit der Religion der Großmutter, die die Welt und Gott zugleich liebt? »Ihre selbstlose Liebe zu der ganzen Welt hat mich bereichert, hat mir eine zähe Kraft für mein ganzes Arbeitsleben verliehen.«

Die Großmutter hat er eben vergessen, und wenn er sie auch nicht vergessen hat, so hat er sie ebenso wie der Großvater verdammt: »die alte Närrin, die Unwissende und Wahnsinnige«.

Den Aufsatz von den »Zwei Seelen« hat er anläßlich des Krieges geschrieben, »der Katastrophe, wie sie die Welt noch niemals durchgemacht hat und die das Leben Europas erschüttert und vernichtet«, wie Gorkij selbst sagt. Woher kommt aber diese Katastrophe: vom religiösen Osten oder vom »wissenschaftlichen« Westen? Nun, es ist doch wohl allen klar, daß die »Wissenschaft« ohne Religion, die halbe Wissenschaft die Welt nicht nur von dieser Katastrophe nicht zu retten vermochte, sondern vielleicht auch die Hauptursache der Katastrophe war. Wenn die menschliche Vernunft behauptet, daß sie alles sei, daß im Menschen außer ihr nichts mehr stecke und daß er nichts mehr brauche, so wird die Vernunft Wahnsinn.

»Einst war er ja gut, als er sich aber einredete, daß er klüger sei als alle, wurde er böse und dumm.«

Was für unmenschliche Greuel so eine verdummte und erboste, zu Wahnsinn gewordene Vernunft verüben kann, sehen heute alle. Der kleine schlaue Großvater prügelt die riesengroße Großmutter »von der Morgenmesse bis zum Abend; er prügelt sie, bis er müde wird, ruht etwas aus und fängt von neuem an. Er prügelt sie mit der Pferdeleine und auf jede andere Weise«. Er prügelt sie, und sie schweigt, duldet und bemitleidet ihn sogar:

»Ach, Großvater, Großvater, du bist ja nur ein winziges Stäubchen in Gottes Auge!«

Gorkij hat seine Großmutter vergessen, er wird sich ihrer aber noch erinnern; er hat sie verlassen, wird aber zu ihr zurückkehren.

Vielleicht hat nicht nur Rußland sondern auch Gorkij selbst »zwei Seelen«, zwischen denen er ewig hin und her schwankt? Zwischen dem Westen und dem Osten, zwischen dem Großvater und der Großmutter? Welche von den beiden Seelen soll er retten und welche töten?

Vielleicht braucht er auch keine von den beiden zu töten, vielleicht muß er alle beide retten, die zwei Seelen zu einer einzigen verbinden? Vielleicht ist Rußland weder der Osten noch der Westen, sondern die Verbindung des Ostens mit dem Westen?

Wenn man zwei Dinge verbinden will, soll man sie nicht vermischen, und wenn man sie nicht vermischen soll, so soll man sie zunächst gänzlich voneinander trennen. Das tut auch Gorkij: er trennt und reißt die beiden Seelen Rußlands in seiner eigenen Seele auseinander. Und wenn seine eigene Seele dabei zugrunde geht, so wird sie nicht umsonst zugrunde gehen: andere Seelen werden durch sie gerettet werden.

So tut der »Gottlose« ein göttliches Werk. Die Trennung der beiden Seelen – des Westens vom Osten, des Handelns vom Schauen, der Erde vom Himmel ist eine nicht vollständige, nicht endgültige, nicht ewige Wahrheit. Es gibt aber keinen andern Weg zur ewigen Wahrheit, als daß man eine von den beiden nicht ewigen Wahrheiten opfert; nur muß man wissen, was und wem man opfert. Gorkij weiß es noch nicht; vielleicht wird er es einmal erfahren.

»Heiliges Rußland! Heiliges Rußland!« sagen wir immer mit gotteslästerlichen Lippen. »Nein, es ist nicht heilig, sondern sündig!« sagt Gorkij so eindringlich, wie es vor ihm noch niemand gesagt hat.

Der Großvater prügelte einmal Aljoscha solange, bis dieser die Besinnung verlor. »An diesem Tage wurde mir gleichsam die Haut vom Herzen geschunden,« berichtet Gorkij, »so empfindlich wurde von nun an mein Herz gegen jedes eigene wie auch fremde Leid.« Dieses geschundene Herz pocht auch heute noch in Gorkijs Brust.

Aljoscha sah einmal, wie »ein Mann in nagelneuer Uniform«, sein Stiefvater, seine kranke Mutter prügelte. »Ich sehe auch heute noch,« erzählt Gorkij, »dieses gemeine, lange Bein mit dem roten Hosenstreif, wie es durch die Luft saust und meine Mutter an die Brust schlägt.« Aljoscha ergriff ein Messer und stürzte auf den Stiefvater los. Dieses Messer steckt noch immer in Gorkijs Seele: die seiner Heimat zugefügte Kränkung ist für ihn nicht im übertragenen, sondern im buchstäblichen Sinne eine Kränkung der Mutter.

Zwei Triebe allen sind bekannt,
Sie sind des Herzens ew'ge Labe:
Die Liebe zu der Väter Grabe,
Die Liebe zu dem Heimatland.

Für Aljoscha ist aber des Vaters Grab jener stinkende Teich, in den seine Onkel einmal im Winter seinen Vater hineingeworfen haben. Ein solches »Vaterland« muß nun Gorkij lieben!

Wenn der Großvater die Großmutter prügelt, und sie schweigt und duldet: »mir sind ja Leiden befohlen!« – sind wir gerührt:

Land der Dulder und der Demut,
Meine Heimat, Russenerde!

Aus dem Gedicht Tjutschew's, das in diesem Buche noch öfter zitiert wird:

Öde Steppen, arme Dörfer,
Volk in Mühe und Beschwerde,–
Land der Dulder und der Demut,
Meine Heimat, Russenerde!

Eines Fremden stolze Blicke
Werden nie erspähen können
Jene stillen, heil'gen Flammen,
Die durch deine Blöße brennen.

Mit der Kreuzeslast beladen,
Hat dich, Heimat, allerwegen
Schon in Knechtgestalt durchwandert
Unser Herr mit seinem Segen!

Anm. d. Ü.

»Heiliges Rußland! Heiliges Rußland!« Gorkij ist aber gar nicht gerührt. Ein Fluch dieser ganzen »Heiligkeit«, wenn aus ihr alle unsere Greuel kommen!

»Wenn ich an alle die bleiernen Gemeinheiten des wilden russischen Lebens denke, muß ich mich fragen: lohnt es sich überhaupt, davon zu sprechen? Und ich antworte darauf mit großer Sicherheit: Ja, es lohnt sich! Denn diese zählebige, niederträchtige Wahrheit lebt auch heute noch. Es ist jene Wahrheit, die man bis zur Wurzel kennen lernen muß, um sie mit der Wurzel aus dem Gedächtnis, aus der Menschenseele, aus unserem ganzen Leben, das so schwer und schändlich ist, herauszureißen.« Niemand hat noch von dieser Wahrheit so gesprochen wie Gorkij: alle sahen sie nur von außen, er aber sah sie von innen.

Wir alle predigen mit Tolstoi und Dostojewskij die »Demut«, das »Dulden«, das »Nichtstun«; Gorkij aber – die Empörung, die Erhebung, das Handeln, das »so furchtbar wahr, so furchtbar russisch« ist. Und wenn Rußland nicht nur von irgendwoher gekommen ist, sondern auch irgendwohin geht, so hat Gorkij mehr Recht als Tolstoi und Dostojewskij. In diesem Sinne ist das »Sündige« Rußland heiliger als das »Heilige«.

Und bedarf es nicht auch einer größeren Liebe, um ein »Sündiges« zu lieben? Bedarf es nicht eines stärkeren Glaubens, um an das »Sündige« zu glauben? Mit solcher Liebe liebt, mit solchem Glauben glaubt Gorkij.

»Erstaunlich an unserem Leben ist nicht nur, daß es eine so dicke, fette und fruchtbare Schicht jeder viehischen Gemeinheit enthält, sondern auch, daß durch diese Schicht allerlei Gutes hindurchwächst, das immer eine unauslöschliche Hoffnung auf unsere Wiedergeburt zu einem lichten, menschlichen Leben weckt.«

Niemand hat noch von dieser Hoffnung so gesprochen wie Gorkij: und wiederum aus dem Grunde, weil alle anderen die Dinge von außen betrachteten, er sie aber von innen erlebte. Man muß selbst durch die ganze Finsternis des einstigen und jetzigen Rußland hindurchgegangen sein, um so von dem lichten zukünftigen Rußland zu sprechen.

Ja, Gorkij glaubt nicht an das heilige, demütige, sklavische, sondern an das sündige, wachsende, sich befreiende Rußland. Er weiß, daß es kein »Heiliges Rußland« gibt; er glaubt aber, daß das »Heilige Rußland« kommen wird.

Durch diesen Glauben tut er, der »Gottlose« ein göttliches Werk. Durch diesen Glauben ist er uns so nahe, näher als Tolstoi und Dostojewskij. Darin sind wir nicht mit ihnen eines Sinnes, sondern mit Gorkij.


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