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Ein Taglöhner Christi

I.

Im heutigen »christlichen« Europa vom Christentume Tolstois zu sprechen, ist beinahe dasselbe, wie im Hause eines Gehängten vom Strick zu reden.

Tolstoi, der noch vor kurzem der Beherrscher aller Geister gewesen ist, scheint plötzlich seine ganze Gewalt verloren zu haben, als wäre er auf einmal unnötig, überflüssig, unzeitgemäß und unmodern geworden; wir wissen mit ihm, wie übrigens auch mit allen andern Weisen, Lehrern und Propheten, nichts anzufangen. Die Ohnmacht des menschlichen Geistes vor der seelenlosen Kraft der Materie trat wohl noch nie so klar zutage wie heute: was die Leute des Geistes auch sagen, denken, fühlen und tun mögen, das ändert nichts an der Sache.

Nicht umsonst wurde uns wohl Tolstoi gerade am Vorabend jener Ereignisse gesandt, deren Zeugen wir heute sind. »Ich hatte zeitweise das Gefühl, daß ich der Vermittler des göttlichen Willens zu werden beginne,« sagt er in seinem »Testament«. Ein Vermittler des göttlichen Willens, ein Vorbote, ein Vorläufer, die Stimme des Predigers in der Wüste: »Tut Buße. Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt.« Wir taten nicht Buße, und so kam das, was kommen mußte. Die Axt ist niedergefallen, und das Feuer, in dem der Baum verbrennen wird, lodert schon.

Ja, wir müssen es gestehen: wir haben Tolstoi vergessen. Wir wollen uns auf ihn besinnen, können es aber nicht. Er war und ist nicht mehr, und wenn er auch noch ist, so steht er uns nicht im Wege: er ist kein Balken, kein Ast, sondern nur ein Stäubchen in unserm Auge. Wir haben das Stäubchen aus dem Auge entfernt und sagen uns: er ist zwar ein großer Weiser, ein Gerechter, aber ... Es gibt so viele »aber«, und sie sind alle so bekannt, daß es sich wirklich nicht lohnt, sie hier zu wiederholen.

Wir haben ihn vergessen; da bringt er aber sich selbst in Erinnerung, – und wie! Wenige werden heute glauben wollen, daß sein »Tagebuch 1895-1899« eines seiner gewaltigsten Werke, wenn nicht das gewaltigste ist.

Das Buch ist durchaus »unzeitgemäß«. Unsere Zeit wird aber vergehen, Jahrhunderte werden vergehen, und dieses Buch wird bleiben. Womit soll man es vergleichen? Mit Pasqual, Epiktet, Sokrates, Mark Aurel? Nein, es ist doch ganz anders. Wer dieses Buch begreift, der wird auch begreifen, wie unvergleichlich, unermeßlich und einzig es ist.

Wir haben noch überhaupt keinen Maßstab für Tolstoi. Wir wissen noch nicht, was er ist. Wenn man am Fuße eines Berges steht, kann man seinen Gipfel nicht sehen; an der Quelle eines Flusses kann man nicht erkennen, wie breit er in seinem weitern Laufe wird. Tolstoi wächst vor unseren Augen, und wie groß er noch wird, wissen wir nicht.

Man kann das »Tagebuch« schwer begreifen, weil es zu einfach ist. Wir glauben immer, daß die Weisheit dunkel und kompliziert sei; sie ist aber klar und einfach. »Alles, was tief ist, ist auch klar. Das Wasser ist ja auch nur an der Oberfläche trüb, mit zunehmender Tiefe wird es aber immer durchsichtiger,« sagt Tolstoi. Das Durchsichtige ist unsichtbar. Im »Tagebuch« haben wir eben dieses Unsichtbare vor uns.

Ein langweiliges Buch, – wird der Leser sagen, dessen Gewissen ruhig ist.

Doch einer, der von Gewissensbissen gepeinigt wird, soll lieber in dieses Buch gar nicht hineinsehen: er findet darin nur Salz für seine Wunden.

Übrigens ist es gar kein Buch und auch kein Gespräch mit dem Leser, sondern ein Gespräch mit sich selbst und mit Gott, ein kaum hörbares Flüstern. Es ist aber mächtiger als Donnergetöse: der Donner wird verhallen, aber dieses Flüstern wird niemals verstummen.

Das Buch wirkt auf den Leser entweder gar nicht, oder so, wie kein anderes Buch. Man kann es nicht ungestraft lesen: einmal durchlesen und vergessen. Vielleicht kann man es auch vergessen. Aber im schrecklichsten Augenblick des Lebens, in der Sterbestunde wird es von selbst in die Erinnerung kommen.

Es ist kein Buch, sondern ein Todesurteil für den Leser. Es ist jene »Rolle«, von der Puschkin sagt:

Und die Erinnerung erschreckend vor mir steht,
Und stumm entrollt sie ihre lange Rolle ...

Es ist die Rolle, die jeder von uns am Tage des großen Zornes lesen wird, an jenem Tage, wo selbst der Gerechte erzittern wird.

 

II.

Tolstoi streichelt uns auch sonst gegen den Strich; im »Tagebuch« tut er es ganz besonders.

Es ist ein Buch vom Tode. Den Tod wollen wir aber nicht kennen. Nur die Götter und die Tiere wissen nichts vom Tode. Und wir sind keine Götter ...

»Wann wirst du einmal aufhören, von diesem Ekel zu sprechen?« unterbrach Sobolewskij Puschkin, als dieser einmal die Rede auf den Tod brachte.

»Lebt wohl. Wir sehen uns noch wieder, wenn wir keinen dummen Streich machen,« sagte eine alte Frau im achtzehnten Jahrhundert.

Der Tod ist ein »Ekel«, der Tod ist ein »dummer Streich«, der Tod ist ein »Zufall«. Man könnte doch meinen, daß alles andere eher ein Zufall ist, als der Tod.

Zwischen Tolstoi und uns besteht darin ein unlösbarer Widerspruch: entweder sind wir bei klarem Verstand, und er ist wahnsinnig, oder umgekehrt.

»W. i. n. l.« – »wenn ich noch lebe«, so schließt er jede Eintragung und setzt gleich das Datum des folgenden Tages darunter. Dies drückt am deutlichsten jenen seelischen und körperlichen Zustand aus (ja, er ist nicht nur seelisch, sondern auch körperlich, und das ist die Hauptsache!), in dem er sein »Tagebuch« schrieb. »Wenn ich noch lebe« – bedeutet die Unsicherheit und Zweifelhaftigkeit des Lebens und die Sicherheit und Zweifellosigkeit, nicht des Todes, sondern dessen, was uns Lebenden als Tod erscheint.

Napoleon glaubte, daß die Menschen nur dann sterben, wenn sie es selbst, natürlich unbewußt, wollen. Bei Tolstoi wird dieser unbewußte Wille zum Tode bewußt.

Wir glauben, daß der Tod etwas ist, was mit uns geschieht; Tolstoi aber wußte, daß der Tod etwas ist, was wir selbst mit uns tun. »Du bereitest dich immer auf den Tod vor, das ist ein kluges Beginnen ... Du willst lernen, einen guten Tod zu sterben.« Der Tod ist eine Wissenschaft, der Tod ist eine Kunst. Der Mensch ist ein Künstler, der Schöpfer nicht nur seines Lebens, sondern auch seines Todes.

»... Ich lag und schlief eben ein; plötzlich war es mir, als ob in meinem Herzen etwas gerissen wäre. Ich dachte mir: so stirbt man am Herzschlag, und blieb ruhig, spürte weder Kummer noch Freude, sondern nur eine selige Ruhe, ob hier, ob dort, – ich weiß, daß mir gut ist, daß es so sein muß, – so hört auch das Kind in den Armen der Mutter, die sich seiner entledigen will, nicht zu lächeln auf, denn es weiß, daß es in ihren liebenden Armen liegt.«

»... Gestern blies ich die Kerze aus, begann nach den Streichhölzern zu tasten und konnte sie nicht finden; und es wurde mir so unheimlich zumute. ›Denkst du nicht ans Sterben? Wirst du auch im Sterben die Streichhölzer suchen?‹ sagte ich mir; im gleichen Augenblick sah ich vor mir im Dunkeln mein gegenwärtiges Leben und beruhigte mich ... Das, was meine Angst war, wurde mir zur Beruhigung.«

»... Ich habe ein schreckliches Geschwür an der Wange. Ich glaubte, es sei ein Krebs. Nun freue ich mich, daß dieser Gedanke gar nicht so unangenehm war: ich werde eben an einen neuen Ort versetzt, und dieser Versetzung kann ich sowieso nicht entrinnen.«

Das Geschwür, die Angst, der »Riß« im Herzen, – das alles bezieht sich ja auf den Körper. Zuerst auf den Körper und dann auf die Seele. Vom Körperlichen zum Seelischen – das ist der Weg Tolstois wie hier, in der Religion, so auch dort, in der Kunst. Wir hatten geglaubt, daß der religiöse Denker Tolstoi dem großen Künstler Tolstoi untreu wurde. Kein Gedanke! Er war bis ans Ende immer derselbe geblieben: der große Realist, der Seher des Fleisches oder, genauer gesagt, dessen, was den Geist mit dem Fleische verbindet, jenes Gebiets zwischen dem Fleische und der Seele, das der Apostel Paulus den »geistlichen Körper« nennt. Keine Spur von Idealisierung, von Abstraktion: alles ist real, körperlich, sinnlich, empirisch.

»... Neulich hatte ich das Gefühl, – keine Überlegung, sondern ein Gefühl, daß alles Materielle, und auch ich selbst mit meinem Körper, nur in meiner Vorstellung bestehe, daß ich ein Werk meines Geistes bin, daß es überhaupt nur meinen Geist gibt.«

Keine Überlegung, sondern ein Gefühl, kein Gedanke, sondern ein Erlebnis, kein Idealismus, sondern ein Realismus – das ist das Wichtigste.

»... Ich sehe im Spiegel einen Menschen, ich höre seine Stimme und bin überzeugt, daß es ein wirklicher Mensch ist; ich komme näher, will ihn bei der Hand fassen, stoße aber an das Spiegelglas und sehe meine Täuschung. Dasselbe muß der Sterbende empfinden: in ihm wird ein neues Gefühl geboren, das ihm zeigt, wie sehr er sich getäuscht hatte, als er sich, seinen Körper und alles, was er durch die Sinne dieses Körpers wahrnahm, für wirklich hielt.«

Kant erforscht die optischen Gesetze der Spiegelung (»transzendentale Ästhetik«); Tolstoi betastet das Glas des Spiegels: darin besteht eben der Unterschied zwischen dem philosophischen Denken und dem religiösen Erlebnis.

Die Unsterblichkeit, das ewige Leben ist nicht nur dort, jenseits des Grabes und in der Zukunft, sondern auch hier, auf Erden, zu dieser Stunde, – das ist das Reale dieses Erlebnisses. »Um an die Unsterblichkeit zu glauben, muß man hier ein unsterbliches Leben leben.« Der Tod ist »der Übergang aus dem irdischen Leben in das ewige Leben hier, jetzt, wie ich es so oft empfinde«. Ich denke nicht, sondern ich empfinde, – das ist wiederum das Wichtigste.

Der Tod ist die Versetzung aus diesem Leben in das andere, aus der einen Szene in die folgende, ein Szenenwechsel. »Im Augenblicke dieses Überganges sehen wir, daß das, was wir für die Wirklichkeit hielten, nur eine Vorstellung war, daß wir von der einen Vorstellung zur andern kommen. Während dieses Überganges sieht oder fühlt man die echteste Wirklichkeit.«

Wenn der Jägerinstinkt des Onkels Jeroschka, die Verliebtheit der Anna Karenina und Kittys Mutterschaft »die echteste Wirklichkeit« sind, so ist vielleicht auch das Gefühl der Unsterblichkeit ebenso wirklich? Wir vertrauen dem großen Realisten Tolstoi, wenn er vom Leben spricht; warum sollen wir ihm nicht auch dann glauben, wenn er vom Tode spricht? Er hat uns hier nicht betrogen, also wird er uns auch dort nicht belügen.

Einer, der betrügen will, sucht zu beweisen und zu überreden; Tolstoi will aber nichts beweisen und niemand überreden; er will nur zeigen.

Die Unsterblichkeit hier auf Erden läßt sich nicht beweisen, sie läßt sich aber erleben. Ein solches Erlebnis ist das »Tagebuch«.

Zwei übereinandergelegte Finger empfinden ein Brotkügelchen als doppelt, das Auge sieht aber, daß es nur ein Kügelchen ist; so empfindet der Sterbende den Tod und das Leben getrennt, sieht dabei aber nur eines: die Unsterblichkeit.

»So jemand mein Wort wird halten, der wird den Tod nicht sehen ewiglich.« So ist es im »Tagebuch«: der Sterbende sieht den Tod nicht.

Tolstois »Erlebnis der Unsterblichkeit« ist im Grunde genommen nichts anderes als das echte Erlebnis der christlichen Heiligkeit.

Tolstoi ist darin trotz aller seiner Abweichungen von der Kirche kirchlich und kanonisch bis in die Knochen.

Das Erlebnis der christlichen Heiligkeit ist ja auch nicht nur ein geistiges sondern auch ein körperliches Erlebnis; es ist nicht nur Metaphysik, sondern auch Physiologie, eine zur Metaphysik vertiefte Physiologie.

Es ist hier nur ein einziger Unterschied möglich: in der Feinheit und Schärfe des Erlebnisses. Das Licht des Bewußtseins in die dunkelsten Tiefen des Unbewußten zu tragen, in ihnen etwas zu sehen, was niemand sieht, sich an Dinge zu erinnern, an die sich niemand erinnert, – diese Eigentümlichkeit des Tolstoischen künstlerischen Genius finden wir auch hier in der Religion wieder. Ganze Welten und Sonnen sind in den unendlich kleinen Atomen von Empfindungen enthalten.

»Ein Papiermesser fiel mir auf die Knie; es kam mir vor, als ob es etwas Lebendes wäre, und ich fuhr zusammen. Warum? Weil alles Lebende uns Pflichten auferlegt, und ich erschrak, weil ich dieser Pflicht nicht nachgekommen zu sein und ein lebendes Wesen erdrückt zu haben glaubte.«

Es ist ein natürliches heidnisches Gefühl: die Angst oder ein Ekelgefühl für sich, für seinen Körper, die Angst vor einem unbekannten lebenden Körper. Das natürliche christliche Gefühl ist aber die Angst für den fremden Körper.

Hier in diesem Atom einer Empfindung strahlt eine ganze Sonne: der Anfang dessen, was die höchste Äußerung der Heiligkeit sein kann – »die Verklärung des Fleisches«.

 

III.

Tolstois Christentum ist uralt und ewig; in ihm ist aber auch etwas unerhört Neues enthalten.

Die christliche Heiligkeit kennt den Schmerz der sozialen Ungleichheit nicht. Der Heilige erdrückt keinen Wurm, zertritt keine Blume, geht aber schmerzlos an den schreiendsten Erscheinungen der menschlichen Sklaverei und Armut vorbei: Sklaven und Arme hat es immer gegeben und wird es auch immer geben; so hat es Gott einmal bestimmt: die Sklaven sollen gehorchen, die Armen dulden.

Und hier, wo die christliche Heiligkeit aufhört, beginnt Tolstois Heiligkeit.

»... Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Das Herz tut mir unaufhörlich weh ... Hilf, himmlischer Vater! Gestern sah ich den achtzigjährigen Akim pflügen, traf Jaremitschs Weib, das keinen Pelz und nur einen einzigen Rock besitzt, und die Marie, deren Mann erfroren ist: sie hat niemand, der ihr das Korn einbringt, und ihr Kind liegt im Sterben; auch den Trofim und den Chaljawka, Mann und Frau und Kinder ... Wir aber üben Beethoven. Und ich betete, daß Er mich von diesem Leben erlöse. Und ich bete wieder und schreie vor Schmerz. Ich habe mich in diesem Leben verfangen, ich versinke, kann nicht heraus, und hasse mich doch und mein Leben.«

Es ist das verkörperte soziale Gewissen, der verkörperte Aufschrei der sozialen Ungleichheit. »Legt mir eine eingeseifte Schlinge um meinen alten Hals!« – was dieser entsetzliche Aufschrei bedeutete, ersehen wir erst jetzt aus dem »Tagebuch«.

In seinen Gedanken engte er das Christentum ein und faßte es in der hergebrachten, kirchlichen Weise als etwas rein Persönliches auf. Aber in den Gefühlen und besonders in diesem Gefühl des sozialen Schmerzes dehnte er es ins Unermeßliche aus und verlieh dem Christentum einen sozialen Anstrich, wie es ihn noch niemals hatte.

Der soziale Schmerz ist ja der neue, heilige, religiöse Schmerz der Menschheit. Und wenn das Christentum diesem Schmerz gegenüber gefühllos ist, so haben diejenigen recht, die da sagen, daß das Christentum zu Ende sei. Daß dem doch nicht so ist, daß man das Christentum auch mit diesem Schmerz in Verbindung bringen kann, das zeigte Tolstoi so, wie es vor ihm noch niemand gezeigt hat.

 

IV.

In religiösen Dingen soll man den Menschen nicht nach dem, was er sagt und denkt, sondern nach dem, wie er lebt und was er tut, beurteilen. Der Gedanke ist die oft trügerische Oberfläche, der Wille aber immer die wahre Tiefe der Religion.

Tolstoi erscheint in allen seinen religiösen Schriften als »Rationalist«. Daß dieser Rationalismus bei ihm unwesentlich und oberflächlich ist, ersieht man aus dem »Tagebuch«.

»Die Vernunft ist uns nicht dazu gegeben, damit wir mit ihrer Hilfe erkennen, was wir lieben sollen: das vermag sie uns gar nicht zu zeigen; sondern, damit wir erkennen, was wir nicht lieben sollen«. Die religiöse Relativität der Vernunft läßt sich gar nicht besser definieren. Wie ungenügend und beschränkt alle Vernunftschlüsse, und selbst seine eigenen sind, sieht er klarer als irgend jemand ein. »Ich habe mich verrannt.« – »Es ist dumm.« – »Dieser Unsinn!« – solche Bemerkungen hängt er jedem seiner Gedanken an und schämt sich gar nicht, es zu tun: er weiß, daß dort, wo der Gedanke erlischt, der Wille, der die einzige den Menschen zugängliche Möglichkeit der Wahrheit ist, aufleuchtet.

Das Gesetz des Denkens ist die logische Konsequenz, ein »Ja« oder ein »Nein«; das Gesetz des religiösen Willens besteht in Widersprüchen und Antinomien, es ist ein »Ja« und ein »Nein« zugleich. Je religiöser etwas ist, um so widerspruchsvoller ist es.

Wenn Tolstoi durchaus konsequent wäre, würde er den sozialen Schmerz gar nicht fühlen, wie ihn die christlichen Heiligen nicht gefühlt haben. Dieser Schmerz gehört zum Komplex des »verdammten Fleisches«, das er ja gänzlich ausrotten will. »Vater, bezwinge, vertilge und vernichte das verdammte Fleisch!« Das Fleisch mit allen seinen Schmerzen und auch mit dem sozialen Schmerz. So ist es in seiner Logik, in seinem Denken, doch nicht in seinem religiösen Leben und Wollen. Tolstoi nimmt mit seinem Leben und Wollen diesen schärfsten und brennendsten Stachel des Fleisches auf: den Schmerz der sozialen Ungleichheit. Hier ist das Ende der Logik und der Beginn der Religion.

Sein Denken kennt nur eine einzige Wahrheit: das Sterben, die Flucht vom Fleische. Für seinen Willen ist das aber nur die eine von den beiden Wahrheiten.

»Ich fuhr an den Viehstallungen vorbei. Ich erinnerte mich an die Nächte, die ich dort einst verbrachte, an die Jugend und die Schönheit Dunjaschas (ich habe mit ihr niemals ein Verhältnis gehabt), an ihren kräftigen weiblichen Körper. Wo mag er jetzt sein?«

Ja, wo? Wenn dort, wo das ganze »verdammte Fleisch« ist, so brauchte er gar nicht zu fragen.

»Heute dachte ich noch ganz unerwartet an die unsagbare Schönheit der keimenden Liebe ... Sie ist wie der uns plötzlich anwehende Duft einer Linde, oder wie ein Schatten, der vom Mond fällt.« Ja, es ist wirklich »ganz unerwartet«, unlogisch, inkonsequent. »Dumm.« – »Ich habe mich verrannt.« – »Dieser Unsinn!« Es ist dumm für den Christen, für den alten Akim; aber für den Heiden, für den Onkel Jeroschka ist es weise. Vielleicht ist Dunjaschas kräftiger weiblicher Körper, die keimende Liebe, der Duft der Linde, der Schatten – kein »verdammtes« sondern ein keusches, reines, »heiliges« Fleisch?

»Gestern ging ich über die überackerte Brache. So weit das Auge blickt, nichts als schwarze Erde, kein einziger Grashalm; am Rande der staubigen, grauen Straße sehe ich plötzlich eine Distelstaude. Drei Stengel: der eine ist gebrochen, und die beschmutzte weiße Blüte hängt herab; auch der zweite ist gebrochen und mit schwarzem Kot bespritzt; der dritte Stengel steht schief, ist auch ganz schwarz von Staub, er lebt aber noch, und in seiner Mitte schimmert es rot. Er erinnerte mich an den Chadschi-Murat ... Er verteidigt sein Leben bis zum Äußersten und ist ganz allein auf dem weiten Felde am Leben geblieben.«

Seine Seele verlieren, sein Leben opfern, ist heilig; nun sehen wir aber, daß auch »sein Leben bis zum Äußersten verteidigen« nicht weniger heilig ist. Es sind zwei Heiligkeiten, gleichsam zwei Ströme: der eine fließt aus der anderen Welt in diese, er ist die Geburt, der Eintritt in das Leben; der andere fließt aus dieser Welt in die andere – er ist das Sterben, der Fortgang. Es sind zwei Ströme, und beide sind gleich göttlich. Man soll nicht danach trachten, wie man die eine Heiligkeit durch die andere verdrängen, sondern wie man sie miteinander vereinigen kann. Tolstoi sieht es zwar nicht ein, aber sein ganzes Leben ist von diesem Streben erfüllt.

 

V.

»Mir träumte, daß ich immer an die Gewalt denke und von ihr spreche, von der es im Evangelium heißt: ›Jedermann dringt in das Reich Gottes mit Gewalt hinein ...‹ Alles Gute, alles Echte muß mit Gewalt erkämpft werden ... Die Gewalt ist wichtiger als alles.«

Sein ganzes Leben und Sterben ist eine einzige, unendliche Kraftanstrengung. Er wird beinahe ohnmächtig, er sinkt um. »Nichts gibt mir Ruhe.« – »Ein unsagbares Unlustgefühl ... Soeben habe ich gebetet und mich entsetzt, wie tief ich gesunken bin.« – »Ich glaube zu wenig an Gott.« – »Eine allgemeine Verzweiflung.« – »Alles ist wieder beim Alten; mein Leben ist wieder das gleiche Rätsel ...« – »Ich möchte weinen über mich selbst und über den Rest meines Lebens, den ich unnütz vergeude.« Er fällt und erhebt sich wieder, er klettert einen furchtbar steilen, nackten Abhang hinauf, ist dabei auch selbst ebenso nackt und schrecklich wie Onkel Jeroschka oder wie jener Bauer aus dem Fiebertraum der Anna Karenina, der mit dem Eisen rasselt und spricht: » Il faut le battre, le broyer, le pétrir

Unser Körper ist wie Rauch, der seinige wie Eisen. Unsere Wurzeln sind wie die einer Zwiebel, die seinigen wie die einer Eiche. Welch große Gewalt ist notwendig, um sie aus der Erde zu reißen!

Wenn überhaupt jemand das Himmelreich mit Gewalt erkämpft hat, so war es Tolstoi.

»Schwer ist die Arbeit des Herrn!« sagte Wladimir Ssolowjow im Sterben. Man kann wohl sagen, daß Tolstoi sein ganzes Leben lang starb und die Arbeit des Herrn tat.

Er ist kein Heiliger, kein Prophet, kein Lehrer, sondern ein einfacher Arbeiter, ein Taglöhner Christi.


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