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Die Dekabristen in den 60er Jahren

»Ich habe die Geschichte Rußlands schon längst in zwei Perioden eingeteilt: in die feudale seit Rjurik und die despotische seit Johann III. Der Keim zu der dritten Periode ist am 14. Dezember gelegt worden.« So schreibt der Historiker Pogodin in seinem Tagebuche.

Man kann Pogodin wohl kaum einer freiheitlichen Gesinnung verdächtigen; er hatte aber den richtigen Instinkt für die historische Wirklichkeit.

Der tiefe Grenzgraben, der das neue Rußland vom alten scheidet – das Zeitalter Peters des Großen – scheint in dieser Einteilung zu fehlen. In Wirklichkeit fanden aber die Reformen Peters erst am 14. Dezember 1825 auf dem Senatsplatze ihre Vollendung; nicht umsonst hatte sich das Karrée des aufrührerischen Moskauer Regiments den Sockel des Ehernen Reiters Reiterstandbild Peters des Großen zu Petersburg. Anm. d. Ü. zum Stützpunkt gewählt. Rußland hatte von Peter das Sakrament des Fleisches, vom 14. Dezember aber das Sakrament des Geistes des europäischen Westens empfangen; Peter der Große und der 14. Dezember sind das Fleisch und der Geist.

Heute jährt sich zum neunzigsten Male jener denkwürdige Tag, und niemand hat sich seiner erinnert.

Wir haben überhaupt ein zu kurzes Gedächtnis. Die russische Geschichtsschreibung von Karamsin bis auf unsere Tage befaßt sich nur mit dem Rückschritt, mit der Reaktion; unser Fortschritt scheint aber außerhalb der Geschichte zu liegen. Auf diesem Gebiete geschah alles ganz urplötzlich; die Kinder hatten keine Väter, und das Heute kein Gestern.

»Die neue Generation hält sich durch nichts an die vorhergehende gebunden; sie will ihr eigenes Leben leben. Kein Leben entsteht aber aus sich selbst heraus; jedes Leben muß auf einem vorhergehenden beruhen; wenn in der Vergangenheit irgendwelche Lebenskeime enthalten waren, so müssen sie in der Zukunft zum Durchbruch kommen,« schrieb im Jahre 1860 Fürst Jewgenij Petrowitsch Obolenskij, einer der Hauptteilnehmer des Dezemberaufstandes.

Die heiligen Traditionen der Freiheit, die heiligen Bande der Zeiten sind in jenen wenigen Dekabristen verkörpert, die die 60er Jahre erlebt haben. So in dem Fürsten Obolenskij und in Batenkow.


»Obolenskij war das tätigste Mitglied des Unternehmens und neben Rylejew der Hauptschuldige an der Verschwörung. Als Trubetzkoi nicht auf dem Schauplatz des Aufruhrs erschienen war, wurde Obolenskij von den versammelten Missetätern einstimmig zum Anführer ernannt,« berichtet Borowkow, der Sekretär der Untersuchungskommission.

Im »alleruntertänigsten Bericht des Obersten Gerichtshofes« ist Obolenskij in die erste Kategorie der Staatsverbrecher gleich neben dem »Diktator« Trubetzkoi eingereiht:

»Oberleutnant Fürst Obolenskij. War am Anschlage gegen das Leben Seiner Majestät beteiligt, indem er die Wahl der Person, die den Anschlag ausführen sollte, guthieß; nach Auflösung des Verbandes der Öffentlichen Wohlfahrt gründete er mit andern die Geheime Nordische Gesellschaft; er stand an der Spitze dieser Gesellschaft und übernahm es, die wichtigsten Vorbereitungen für den Aufstand zu treffen; er nahm an der Erhebung persönlich Anteil und machte sich auch des Blutvergießens schuldig, indem er den Grafen Miloradowitsch mit dem Bajonett verwundete; er spornte die andern an und hatte den Oberbefehl.«

Das Gericht verurteilte Obolenskij zur Enthauptung. Der Kaiser ersetzte aber die Todesstrafe durch lebenslängliche Katorga Katorga – Zuchthaus mit Zwangsarbeit in Sibirien. Anm. d. Ü. in Sibirien.

Er verbrachte auf der Katorga in den Bergwerken von Nertschinsk, Tschita und Petrowsk dreizehn Jahre; weitere siebzehn Jahre lebte er in Turinsk und Jalutorowsk; seine Verbannung dauerte im ganzen dreißig Jahre. Im Jahre 1856, anläßlich der Thronbesteigung Alexanders II. begnadigt, kehrte er nach Rußland zurück und starb im Jahre 1865.

Gawriïl Stepanowitsch Batenkow kam in die dritte Kategorie: »Er wußte von dem beabsichtigten Zarenmord, war mit dem Plane der Empörung einverstanden und bereitete seine Genossen durch Ratschläge zu diesem Aufstand vor.«

Die Angeklagten der dritten Kategorie wurden zu lebenslänglicher Katorga verurteilt und vom Kaiser zu zwanzigjähriger begnadigt. Batenkow bekam aber statt der Katorga Einzelhaft in der Festung. Der Grund ist unbekannt; einige Aufschlüsse gibt die im Staatsarchiv aufbewahrte, von Batenkow eigenhändig niedergeschriebene Aussage vom 18. März 1826:

»Eine seltsame und mir unerklärliche geistige Trübung, die während des ganzen Gerichtsverfahrens anhielt, schwächte meinen Charakter ... Ich sagte mich auf die schändlichste Weise von der besten Tat meines Lebens los ... Ich war an der Geheimen Gesellschaft nicht nur beteiligt, sondern auch ihr tätigstes Mitglied gewesen ... Unsere Geheime Gesellschaft war keine aufrührerische, sondern eine politische. Mit wenigen Ausnahmen bestand sie aus Männern, auf die Rußland immer stolz sein wird ... Ihre Ziele waren nicht gering ... Es handelte sich nicht um einen einfachen Aufstand, wie ich es zu meiner Schande einigemal aussagte, sondern um den ersten Versuch einer politischen Revolution in Rußland ... Die Zahl der Teilnehmer war zwar klein, aber um so größerer Ruhm winkte einem jeden von ihnen. Da die Kräfte viel zu schwach und die Zahl der zu allem bereiten Teilnehmer zu gering war, konnte die Stimme der Freiheit nur wenige Stunden lang erklingen; daß sie aber überhaupt erklungen ist, erfüllt mich mit Freude ...«

Als Batenkow dieses niederschrieb, wußte er wohl, was er riskierte.

Eine Legende behauptet, daß Kaiser Nikolai Pawlowitsch den Angeklagten Batenkow während des Gerichtsverfahrens für unschuldig befunden und aus der Festung habe freilassen wollen. Batenkow hätte aber dem Kaiser geschrieben, daß er, falls man ihn freiließe, sofort eine neue Verschwörung anzetteln würde. Der Kaiser hätte darauf seinen Leibarzt Ahrendt zu ihm geschickt, der ihn untersuchen sollte, ob er nicht verrückt geworden sei.

»Wenn Sie die Meldung erstatten, daß ich geisteskrank bin, so werden Sie die Verantwortung für die Folgen meiner Freilassung zu tragen haben,« hätte Batenkow dem Leibarzt gesagt.

Ahrendt hätte dem Kaiser gemeldet, daß Batenkow zwar einen beschleunigten Puls habe, aber keine Spuren von Geisteskrankheit zeige.

Man sperrte ihn in das mitten im Meere in einem nackten Felsen ausgehauene Fort Swartholm in der Nähe der Alandsinseln. Hier schrieb er sein schreckliches Gedicht »Der Verwilderte«.

Nachdem er auf Swartholm ein halbes Jahr verbracht hatte, wurde er in die Peterpaulsfestung, in eine finstere, zehn Schritte lange und sechs Schritte breite Kasematte verbracht.

Er wurde dort äußerst streng gehalten, und den Wachtposten war es verboten, mit ihm zu sprechen und selbst seine harmlosesten Fragen nach dem Datum oder der Stunde zu beantworten.

Hier verbrachte er über 19 Jahre. In der Lektüre der Bibel suchte er Rettung vor dem Wahnsinn. Zuletzt verlor er jedes Gefühl für die Zeit: zuweilen schien es ihm, daß er schon einige Jahrhunderte eingesperrt sei oder daß er seit Monaten, ohne Nahrung zu sich zu nehmen, im Gebete stehe.

Alle, Freunde und Feinde, hatten ihn vergessen. Niemand wußte, wo er war und was mit ihm geschehen sei. »Niemand konnte auch nur ahnen, was für ein Gegenstand sich unter Nr. 5 (der Nummer seiner Kasematte) befand,« berichtete er später.

Er wäre wohl im Kerker gestorben, wenn sich nicht seiner ganz zufällig der Kommandant der Festung erinnert und über ihn dem Kaiser Bericht erstattet hätte. Im Fahre 1846 wurde Batenkow aus der Festung befreit und nach Tomsk verbannt.

Auf der zweiten Station nach Petersburg erblickte er irgendeine Frau: es war das erste weibliche Wesen, das er seit 20 Jahren sah; er freute sich dermaßen, daß er sie wie ein Kind umarmte und küßte.

Die plötzlich wiedergewonnene Freiheit und die Rückkehr in die Gesellschaft von lebenden Menschen regten ihn dermaßen auf, daß ihn viele für geisteskrank hielten. Wenn er einige Schritte durch sein Zimmer ging, blieb er plötzlich, wie wenn er auf die Wand der Kasematte gestoßen wäre, stehen und kehrte um. Vor der Stille hatte er eine unheimliche Angst. Als er einmal allein in seinem Zimmer war, hörte man ihn plötzlich wahnsinnig schreien. Man stürzte zu ihm hinein und fand ihn ruhig auf seinem Platze sitzen.

»Gawriïl Stepanowitsch, was haben Sie?«

»Gar nichts. Der Mensch muß doch auch einmal schreien!«

So hatte er in seiner Kasematte geschrieen, um wenigstens seine eigene Stimme zu hören.

Nach dem Manifest von 1856 kehrte er nach Rußland zurück und starb im Jahre 1863.

Obolenskij und Batenkow waren Freunde, und noch mehr als Freunde: geistige Zwillingsbrüder.

Ihnen, den Teilnehmern am ersten mißlungenen »Versuch« des 14. Dezembers war es beschieden, auch den zweiten, ebenfalls mißlungenen Versuch vom 19. Februar Am 19. Februar 1861 wurde in Rußland (durch Alexander II.) die Leibeigenschaft aufgehoben. Anm. d. Ü. zu erleben.

Batenkow sprach fast niemals von politischen Angelegenheiten. »Ich bin wohl bis zu meinem Tode erstarrt.« Er war erstarrt und verstummt. Was er aber in dieser Zeit fühlte und dachte, kann man aus den Briefen seines Freundes Obolenskij ersehen.

»Nun ist das neue Jahr angebrochen,« schrieb Obolenskij im Januar 1861, d. h. am Vorabend des 19. Februar an ein anderes früheres Mitglied der Geheimen Gesellschaft; dasselbe hätte er aber auch Batenkow schreiben können. »Laß uns einander umarmen und dem neuen Geschlecht das Glück wünschen, das wir für uns ersehnten ... Die freie Stimme des Volkes wird bald im ganzen russischen Land erschallen ...«

»Und alles wird vor unseren Augen geschehen, d. h. vor den Augen derjenigen, die schon längst das Übel eingesehen hatten, das als schweres Joch auf unserem Volke lastete.« (1864). – »Unser seliger Alexander wollte von ganzem Herzen das, was heute geschieht und zum Teil schon geschehen ist, verwirklichen.« (1865.)

Es ist die ewige alte Geschichte: das Böse wird zum Guten, das Verbrechen zur Heldentat.

Warum wurden diese Männer, »auf die Rußland immer stolz sein wird«, als Verbrecher behandelt? Sie selbst erheben diese Frage nicht; wir hören sie kein einziges Mal murren, wir sehen nur das stille Lächeln einer stillen Weisheit auf ihren Lippen.

»Vieles haben wir erlebt, mein Freund, und vieles erleben wir jetzt ... Bleiben wir unserer so schönen Vergangenheit treu; sie ist durch Gottes Gnade in uns geläutert und wird nun im Lichte der Wahrheit erstrahlen. Unser Leben wird seine Bedeutung nicht verlieren ... Mag nun das junge Geschlecht sehen, wie wir das Gute zu schätzen wissen ... Das ist unser Beruf ... Wir sind die Fahne

Ja, sie sind die Fahne: ihre Stellung in der russischen Geschichte kann man gar nicht besser bezeichnen.

Sie lassen sich auch vom zweiten »Versuch« ebensowenig täuschen wie vom ersten: sie wissen, daß das Werk noch lange nicht zu Ende ist, daß es erst jetzt beginnt.

»Es gilt noch viele Wunden zu heilen und viele Übel, die sich bei uns seit Jahrhunderten eingewurzelt haben, mit der Wurzel auszureißen! Das alles kann nicht ohne Schmerz und ohne Widerstand seitens derjenigen, die man heilen will, geschehen. Ihr ganzes Ungemach werden sie der Stimme der Freiheit zuschreiben,« prophezeit Obolenskij, und die Prophezeiung geht vor seinen Augen in Erfüllung.

»Das Alte will nicht sterben, und das Junge ist noch nicht stark genug.« – »Die Erinnerung an die Leibeigenschaft wird noch lange in den Sitten, Gewohnheiten und selbst im Blute fortleben ... Besteht denn nicht unsere ganze Beamtenwelt, unser ganzer Regierungsapparat aus den gleichen Gutsbesitzern, die vom Geiste der Leibeigenschaft durchseucht sind? Nach dem Buchstaben des Gesetzes ist die Freiheit schon erklärt; im Leben ist sie aber noch nicht verwirklicht; selbst auf dem Papier ist sie kaum zu sehen; man kann sie zwar nicht mehr streichen, wohl aber ihren Sinn entstellen.« – »Alle sind einig, daß die Idee der Freiheit schön ist; sobald man sie aber auf das Leben anwenden will, so legt sie der eine Teil, nämlich die Regierung, als einen bedingungslosen Gehorsam aus; der andere Teil aber findet, daß die Freiheit bei ihrer Verwirklichung dem Leben jenen moralischen und materiellen Gehalt nimmt, ohne den der Begriff der Freiheit sich verflüchtigen muß.« (1861.)

»Diese Zeit ist eine Übergangszeit, und das Gleichgewicht wird erst dann eintreten, wenn beide Teile eingesehen haben, daß die Einigung für beide von gleichem Nutzen ist. Bis dahin wird es noch viele Zusammenstöße geben ... Die Gebildeten können die Gleichberechtigung des andern Teiles noch nicht anerkennen.« (1861.)

Er sieht schon voraus, daß die »beiden Teile« – das Volk und die Intelligenz (Obolenskij gebraucht hier dieses Wort zum erstenmal) die beiden Ränder eines neuen Abgrundes darstellen werden.

Der Sinn des ersten »Versuches« vom 14. Dezember ist lediglich politisch; der Sinn des zweiten – vom 19. Februar – politisch und sozial. Vor dieser neuen, noch unbekannten Seite der Befreiung haben die Alten Angst. Sie fühlen übrigens auch selbst, daß sie darin etwas nicht verstehen und niemals verstehen werden. »Die junge Generation hat uns überholt und muß uns noch mehr überholen.« Zwischen den beiden Generationen besteht hier eine unlösbare Antinomie wie zwischen Liberalismus und Sozialismus, wie zwischen Freiheit und Gleichheit.

»Die Petersburger Feuersbrünste (1862) brachten alle in höchste Erregung und übergossen das ganze Land mit ihrem roten Scheine.« – »Was mag wohl der Grund der Brandstiftungen sein? Wer weiß es? Es ist aber allen bekannt, daß im Volke aufwieglerische Aufrufe verbreitet werden ... Besteht nicht irgendein Zusammenhang zwischen dem materiellen Feuer, das den Besitz vernichtet, und dem Feuer der Revolution, das man an die Grundpfeiler des bürgerlichen Seins legen will?«

Die Alten wundern sich, daß das bleiche Morgenrot blutrot wird; vielleicht zweifeln sie zuweilen, ob das dieselbe Freiheit ist, von der sie einst geträumt hatten. »Es ist schrecklich, an die Zukunft zu denken. Wie und womit wird sich das aufziehende Gewitter entladen?«

Die Angst und die Zweifel sind nur flüchtige Schatten, die eine an der Sonne vorbeigleitende Wolke wirft. Die für den Verstand unlösbare Antinomie wird durch das Herz gelöst.

»Ich glaube, daß das Übel heilbar ist.« – »Wenn die allgemeine Bewegung auch anormal ist, so ist es doch gut, daß die Menschen vom Schlafe erwacht sind und daß das Leben in seine Rechte tritt.« – »Menschen, die die Fesseln gewohnt sind, verstehen noch nicht sich frei zu bewegen; darf man denn ihnen aus dieser natürlichen Ungeschicklichkeit einen Vorwurf machen? Sie wird bald vergehen ...« – »Wir und unsere Kinder werden die Früchte unserer besten Wünsche und Bestrebungen erleben.« – »Eine Reihe heiterer Jahre steht bevor, und die Sonne der Freiheit und Wahrheit, die uns heute leuchtet, wird ihre wohltätigen Strahlen über alle Wege unseres tausendjährigen Rußlands ergießen.« – » Alles wird gut werden

Ja, alles wird gut werden! Es ist das stille Abendlicht des heiligen Alters, die heilige Freude.

»In der Seele herrschen Friede und Stille ... Der Segen von oben ist der Grund, auf dem die ewige Freude ruht ...« – »Gebe Gott, daß wir vor Ihn mit dem Zeichen Seines heiligen Namens auf unserm ganzen Wesen treten.« – »Wohltätig ist der Glaube an die lichte Zukunft, die sich uns im Hause unseres himmlischen Vaters eröffnet ... Freund, halte dich an diesem einzigen Rettungsanker fest, und das Leben wird dir in seiner ganzen lichten Fülle und himmlischen Größe erscheinen.«

Zu den gleichen Schlüssen gelangt auch Batenkow. Er, der »bis zum Tode erstarrt und verstummt« ist, gedenkt aller Leiden, die er überstanden, und stammelt: »Anfangs erschien mir alles als himmelschreiende Ungerechtigkeit; später war ich meinem Kreuze schon gewachsen und heute würde ich mich schämen, das Kreuz, das ich getragen, von mir zu werfen ... Darauf ist ja der Heiland, der mich die Demut gelehrt hat ... Das sind meine Morgengedanken, lieber Freund ...«

O Herr, entlasse Deinen Knecht,
Wie Du gelobt ihm hast, in Frieden:
Des Himmels Licht sah ich hienieden,
Ich zeuge es bei Deinem Recht ...

Ist das nicht dasselbe, was er schon auf Fort Swartholm, wo er lebendig begraben war, vorausahnte?

Ihr Mächt'gen, gebt euch keine Müh:
Ich werde jede Pein bestehen:
Durch nichts ertötet ihr in mir
Die Hoffnung auf das Auferstehen!

Die persönliche religiöse Wahrheit fällt hier mit der sozialen religiösen Wahrheit zusammen. Das Soziale ist nur darum so fest gefügt, weil hinter ihm die Religion steht; hinter dem Zeitlichen das Ewige.

»Das Verhältnis des Zeitlichen zum Ewigen ist notwendig und unumstößlich,« sagte Obolenskij; dasselbe könnte aber auch Batenkow sagen. »Das neue Leben soll alles, was dem Geiste der Orthodoxie zuwiderläuft, überwinden.«

Er spricht von der »Orthodoxie«, weil er noch nicht anders zu sprechen versteht. Uns ist es aber klar, daß er etwas anderes als die Orthodoxie meint, daß wir eine Vision der »Neuen Welt« vor uns haben. »Die alte Welt vergeht, und die neue beginnt, ebenso wie es zu Beginn unserer Ära war. Die Wahrheit lag aber auch schon damals im Evangelium.«

Dies ist der religiöse Sinn des 14. Dezembers, dieses ersten Versuchs der russischen Befreiung. Dem zweiten Versuch zu Beginn der 60er Jahre fehlt dieser Sinn; die neue Generation hatte eine Fahne erhoben, auf der geschrieben stand: Gemeinschaft ohne Religion, Freiheit ohne Gott.

Diesmal haben nicht die Jungen die Alten überholt, sondern umgekehrt: die Alten die Jungen. Durch die Verbindung der religiösen Wahrheit mit der sozialen stehen wir unsern Großvätern und Urgroßvätern näher als unsern Vätern.

Wenn das der Sinn des ersten Versuches war, so wird vielleicht auch der Sinn des letzten Versuches derselbe sein? Wenn der 14. Dezember die »Fahne« ist, so werden sich vielleicht alle späteren Fahnen vor dieser ersten neigen, auf der geschrieben steht: Freiheit mit Gott!


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