Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Erfüllung der Kirche

Welche Idee ist für den heutigen gebildeten Durchschnittsmenschen am unfaßbarsten und ebenso schwer vorstellbar, wie die vierte Dimension für ein Wesen, das die Welt der drei Dimensionen bewohnt? Auf diese Frage kann man, ohne auch nur einen Augenblick zu schwanken, antworten: die Idee der Kirche als einer freien und liebevollen Vereinigung der Menschen in Gott.

Und in der Tat: was ist die Kirche für den gebildeten Durchschnittsmenschen unserer Tage? Im besten Falle ein großartiges archäologisches Denkmal, und im schlimmsten Falle – ein Haufen Kehricht oder jener Schnee, der im Frühling im Graben zurückgeblieben ist und nicht tauen will, wenn schon alles geschmolzen ist. Die Zufluchtsstätte der dunklen Seelen, die das Licht der wahren Erkenntnis noch nicht erblickt haben oder schon tot sind. Die Stätte der großen Verwüstung, »die Behausung der unreinen Vögel«, wie der Prophet das zerstörte Zion nennt. Wenn nur ein einziger Sonnenstrahl auf den Grund des Grabens fällt, wird der Schnee zerschmelzen; wenn man die dunklen Seelen erleuchtet, wird die Kirche sofort verschwinden.

Die Zeit, da die gebildeten Durchschnittsmenschen böse wurden oder sich entsetzten, wenn in ihrer Gegenwart von der Kirche gesprochen wurde, ist längst vorbei; heute langweilen sie sich nur und können nicht begreifen, wie man so ernsthaft von solchem Unsinn sprechen kann.

Um unter diesen Umständen die Behauptung zu verfechten, daß der Idee der Kirche die ganze unabsehbare Zukunft gehört, daß die Kirche der wertvollste von allen menschlichen Werten ist, daß sie jener von den Bauleuten verworfene Stein ist, der einst zum Eckstein werden wird, – um das alles zu behaupten, braucht man großen Mut; vielleicht noch mehr als Mut: – jenen »heiligen Wahnsinn«, der den Kindern dieser Zeit als einfache »Tollheit« erscheint.

Von dieser »Tollheit«, oder diesem heiligen Wahnsinn ist das soeben erschienene Buch: » Reform, Reformation und Erfüllung der Kirche« von A. W. Kartaschow erfüllt. Eigentlich ist es ein in Buchform veröffentlichter Vortrag, den der Verfasser im Jahre 1916 in der Religionsphilosophischen Gesellschaft zu Petersburg gehalten hat.

Kartaschow ist sich seines »Wahnsinns« wohl bewußt: »Ich sehe vollkommen ein, daß jeder Versuch, die Lösung irgendeiner der großen philosophischen oder religiösen Fragen auf der Idee und der Existenztatsache der Kirche aufzubauen, der heutigen Gesellschaft durchaus unverständlich erscheinen muß.« »Was das Christentum und was die Kirche ist, – darüber hat die Gesellschaft keinerlei feste Vorstellungen.« Es ist für sie ein »halbentdecktes«, vielleicht sogar ein gänzlich unentdecktes Land, ein neues Amerika, das auf einen neuen Kolumbus wartet.

Kartaschow beurteilt die Sachlage durchaus richtig; er sieht ein, daß die Idee der Kirche in der heutigen europäischen Kultur den größten Widerstand findet, daß diese ganze Kultur nicht nur empirisch, mit ihrem sichtbaren Antlitz, sondern auch mystisch, mit ihrem unsichtbaren Geist, der Idee der Kirche feindlich gegenübersteht.

Kartaschow weiß aber auch zugleich, daß er in seinem Kampfe nicht allein ist. Die ganze Vergangenheit dieser selben europäischen Kultur, die zwar von der Kirche abgefallen, aber immerhin aus ihrem Schoße hervorgegangen und eine, wenn auch verirrte Tochter der Kirche ist, steht auf seiner Seite. Und wenn sogar die ganze europäische Gegenwart mit der europäischen Vergangenheit endgültig gebrochen hat, so ist doch die ganze Zukunft Rußlands, die ganze religiöse Kraft des russischen Volksgeistes, von der unsere große Literatur zeugt, auf Kartaschows Seite, wenn er für die Idee der Kirche kämpft. Tolstoi ist zwar für diese Idee blind, und Dostojewskij noch schlimmer als blind – halbsehend: er sieht sie verzerrt und entstellt. – Aber diese beiden Titanen, der blinde und der halbsehende tragen auf ihren Schultern, ohne es selbst zu sehen, den gleichen Stein, den die Bauleute verworfen und der zum Eckstein geworden ist.

»Wenn unsere Ackerbauer aus dem Schoße der Erkenntnis ungeschliffene Edelsteine hervorholen, die dem Europäer wertlos erscheinen und seinem Geiste nichts sagen, so ist das noch kein Beweis dafür, daß diese Edelsteine keine neuen Ideen enthalten ... Ich beneide nicht jene übersättigten und von der Vollkommenheit und Unerreichbarkeit ihrer Kultur und Philosophie überzeugten Europäer, die die Offenbarungen unserer großen Propheten nicht kennen und, was noch trauriger wäre, vielleicht gar nicht verstehen können ... Wir denken natürlich nicht daran, uns einem Tolstoi oder Dostojewskij an die Seite zu stellen; wir erlauben uns nur, die Schwierigkeit unserer Lage, wenn wir von der Idee der Kirche vor europäisch geschulten Zuhörern sprechen wollen, mit der Unverständlichkeit dieser Titanen für den Europäer zu vergleichen. Wenn einmal eine Erkenntnistheorie, eine Logik, eine Ethik, eine Religionsphilosophie und alle andern philosophischen Disziplinen mit Berücksichtigung dieser Idee geschrieben sind, wird es zweifellos viel leichter sein, davon zu sprechen. Heute wissen wir nur, daß die gebildete Gesellschaft für viele Wahrheiten taub ist und daß eine einfache Darlegung vieler anscheinend elementarer Dinge auf unüberwindliche theoretische Vorurteile stoßen muß.« Diese Vorurteile sind aber nicht nur in der Theorie und in der Vernunft, sondern leider auch im Herzen und im Blute begründet.

... Dann spälte
Er meine Brust mit scharfem Erz
Und steckte in des Busens Wunde,
Draus zuckend er entfernt mein Herz,
Der Kohle Feuerglut zur Stunde ... Aus dem Puschkin'schen Gedicht »Der Prophet«, in der Fiedler'schen Übertragung (Reclam) zitiert. Anm. d. Ü.

Ebenso muß man mit dem heutigen gebildeten Durchschnittsmenschen verfahren, damit er begreife, was die Kirche ist.

»Wir stützen alle unsere Hoffnungen auf den festen Stein der Kirche, wir pflanzen sie in das Pleroma dieses Dogmas ein, in dessen unerschöpflicher Fülle alle Wege und Mittel zur Lösung der Lebensfragen des Glaubens, des menschlichen Gemeinlebens und des ganzen Kosmos enthalten sein müßten.«

»Du bringst etwas neues Neues vor unsere Ohren,« könnten die modernen Athener auf diese Predigt des Paulus antworten. Es ist nicht nur etwas Neues, sondern auch etwas Schreckliches. Wenn man die ganze brennende Schärfe der Frage von der Kirche erfaßt hat, sieht man sich tatsächlich vor eine schreckliche Wahl gestellt: entweder die Erfüllung der Kirche, des Reiches Gottes auf Erden, oder die Erfüllung des Reiches des Tieres, das Ende der Welt, der ganzen europäischen Kultur, dieser zweiten Atlantis, die nicht in Wasser, sondern in Blut versinkt; die ersten Wogen dieser blutigen Sintflut sehen wir schon heute.

Kartaschow selbst nimmt aber manchmal dieser Frage absichtlich oder zufällig ihre Schärfe und dämpft die Tragik der furchtbaren Wahl. Eine große, höchst gefährliche Unklarheit ist, wenn nicht in seinen Gedanken, so doch in seinen Worten enthalten. Er gebraucht das Wort »Kirche« in doppeltem Sinne, und hält die beiden Bedeutungen nicht deutlich genug auseinander: die Kirche als etwas Historisch-Gegebenes, und die Kirche als etwas Prophetisch-Erhofftes; als Vorhandenes und als Kommendes. Die historische Kirche, die zwar auf Einheit und Allweltlichkeit Anspruch erhebt, in der Tat aber in zwei lokale Kirchen – die morgenländische und die abendländische – zerfallen ist, und die kommende, wahrhaft einige und allweltliche Kirche – sind nicht zwei Zustände, zwei Entwicklungsstufen des gleichen Wesens, sondern zwei verschiedene Wesen. Der Strich, der diese beiden Auffassungen der Kirche voneinander trennt, müßte schärfer gezogen werden, als es Kartaschow tut, wenn seine Ausführungen verständlich erscheinen sollen. Auf diese Unklarheit werden wir noch zurückkommen; wir müssen aber gleich am Anfang auf sie hinweisen: sonst würde alles folgende schlimmer als unverständlich sein: es würde verkehrt verstanden werden und wie Wasser auf eine fremde Mühle wirken.

Kartaschow sieht die Hauptursache dessen, daß die Idee der Kirche für den modernen Menschen so unverständlich ist, im religiösen Geiste der Reformation, der die ganze europäische Kultur durchdringt. »Der allgemein anerkannte Standpunkt der Sozial-Philosophen, die die Religion als ein intimes Gebiet des menschlichen Geistes, als eine ›Privatsache‹ auffassen, ist die direkte und charakteristische Folge der Reformation, durch die das kirchliche Christentum gänzlich abgeschafft wurde.« – »Das tiefste und reinste Prinzip der Reformation ist die völlige Vereinsamung der religiösen Persönlichkeit vor Gott.«

»Die Reformation kennt nur eine religiöse Dimension – die in die Tiefe gehende, und nur eine dürftige Linie – die von Gott zur Menschenseele führende.«

Wollen wir diesen Gedanken Kartaschows weiter ausspinnen, um ihn endgültig zu klären:

Die Kirche bejaht eine Vereinigung von Menschen, eine Menschengemeinschaft in Gott; die Reformation bejaht jedes einzelne Individuum in Gott und eine Menschengemeinschaft ohne Gott.

Vielleicht ist die Religion in der Menschheit eine konstantere Größe, als man gewöhnlich annimmt; vielleicht ist die religiöse Temperatur der Menschenseele ebenso unveränderlich wie die Temperatur in der Tiefe des Wassers. Gott ist das, wovon die Menschen leben; solange sie leben, haben sie einen Gott, und wenn sie Ihn auch nicht kennen. Vielleicht hat sich in der modernen Gesellschaft nicht die Quantität sondern nur die Qualität der religiösen Energie verändert. In der Kirche gingen die Menschen gemeinsam zu Gott; heute geht der Mensch zu Gott, nur wenn er allein ist; wenn aber mehrere Menschen zusammengehen, so gehen sie, wohin man nur will, nur nicht zu Gott. Gott hat sich ins Innere des Menschen zurückgezogen, zwischen den Menschen gibt es Ihn aber nicht mehr.

Die Reformation, die die Kirche, die Vereinigung von Menschen in Gott abgeschafft hat, machte Platz für den Staat, für die Vereinigung von Menschen ohne Gott. Der Staat war noch niemals so absolut und unumschränkt wie in unseren Tagen. Im Mittelalter stand neben dem Staate die Kirche. Die ganze heutige europäische Kultur ist zwischen dem Staate und der Kirche wie zwischen Hammer und Ambos geschmiedet worden. Der Ambos ist in Stücke gesprungen, und nur der Hammer allein, der aber nicht mehr schmiedet, sondern nur zermalmt und zerstört, ist geblieben. Der Kirche des Mittelalters werden die Grausamkeit und die Folterungen der Inquisition zum Vorwurf gemacht. Doch dem modernen Staat wirft niemand etwas vor. Wenn aber auch nur ein Hundertstel jener Opfer, die heute der Staat verschlingt, der Kirche dargebracht worden wären, so wäre schon längst das Reich Gottes auf Erden eingetreten.

Der Staat hatte noch niemals solche Ähnlichkeit mit der Kirche wie in unseren Tagen. Jede nationale Kirche will sich zu einer Weltkirche ausdehnen; ebenso will heute jeder Nationalstaat ein Weltstaat werden. Dieser Weltkrieg ist der Krieg der Nationalstaaten um das Weltreich.

Die Kirche ist das feurigste aller Wunder; der Staat »das kälteste aller Ungeheuer«. Der Staat ist ein teuflischer Doppelgänger der Kirche.

Der Staat ist zu einer Kirche geworden. Darum kann auch der moderne Mensch, der durch und durch staatlich ist, nicht begreifen, was die Kirche ist.

Das ist eine List des Teufels: er hat Gott in die verborgenste, dunkelste Tiefe der Menschenseele hineingedrängt, um sich zunächst der ganzen übrigen Welt und dann auch der Menschenseele zu bemächtigen: denn die Seele kann doch sowieso aus dieser Welt nirgends fliehen. Nach dem, was heute vorgeht, zu schließen, ist dem Teufel die List vollständig oder wenigstens zum Teil gelungen: Gott ist eine »Privatsache« eines jeden einzelnen Menschen, und die gemeinsame Sache der ganzen Menschheit liegt in den Händen des Teufels. Jeder einzelne sucht seine Rettung für sich, alle zusammen gehen aber zugrunde. Und wenn das so weitergeht, kann man es als sicher annehmen, daß niemand sich retten wird.

Die eine Ursache der Abkehr der Menschheit von der Kirche ist der von der Reformation gezeugte religiöse Individualismus, also etwas, was innerhalb der Kultur vorgeht; die andere Ursache ist aber das, was sich heute innerhalb der historischen Kirche selbst abspielt.

»Alles Unbewegliche, alles, was an der welthistorischen Schöpfung nicht teilnimmt, ist aus bloßer Trägheit noch immer der Kirche untertan; aber alles Schöpferische, Lebendige, alles, was auf sich den Stempel der Jugend trägt und ein Anrecht auf eine Zukunft hat, findet innerhalb der Kirche keinen Platz und muß sie verlassen.« – »Der geistige Riß geschah in der Linie der Fragen, die jedem Kulturmenschen bekannt sind. Ein jeder weiß, daß er in der Kirche keine Nahrung für seinen Intellekt, für seinen Drang nach persönlicher und sozialer Freiheit und für sein Schaffen finden kann.« – »Die Ursache dieses Risses liegt nicht nur in der Sündhaftigkeit und Willkür der Menschheit sondern auch in ihrem Streben nach höherer religiöser Wahrheit. Die Menschheit kann doch nicht alle Errungenschaften der menschlichen Erkenntnis in der Weltgeschichte, die ganze Vertiefung und Erneuerung der vor ihr stehenden philosophischen, sozialen und religiösen Aufgaben einfach im Stich lassen und vergessen. Die Menschheit läßt sich diese ewig wachsenden Forderungen des Geistes weder durch Drohungen noch durch gute Worte der Kirche austreiben.«

»In der Kirche ist das Prophetentum versiegt. Unter der absoluten Gewalt des Priestertums ist die Kirche flügellahm geworden, ist völlig in alten Dogmen erstarrt und hat die Freudigkeit des Sturmvogels verloren, der dem die alte Erde und den alten Himmel verbrennenden Feuer vorausfliegt. Nur die von den Tränen der Rührung und Verzückung getränkte Freude der Versöhnung mit der vergänglichen Gestalt dieser Welt ist in der Kirche geblieben; die Freude des schöpferischen Zerstörens und Wiederaufbauens ist ihr jetzt aber fremd. Und die Menschen gehen in die Kirche, nur um vor Kummer oder Freude zu weinen; wenn sie aber etwas schaffen wollen, so treten sie ins freie Feld, unter das sonnendurchflutete Himmelszelt, wo sie die lebensspendende Luft der prophetischen Eschatologie atmen.«

»Wenn es sich so verhält, welche Kraft kann dann noch die Kirche vom Fleck rühren?«

Eine Antwort auf diese Frage geben die letzten Seiten des Buches, die von einem so feurigen und prophetischen Geiste erfüllt sind, wie wir ihn seit Tschaadajew nicht mehr erlebt haben. Diese Seiten sollte man nur im Zusammenhang lesen; es ist schade, einzelne Worte, einzelne Töne aus der herrlichen Symphonie herauszureißen. Die Worte einer aufgezeichneten Rede sind wie Noten einer nicht aufgeführten Musik. Aber alle, die Kartaschows Rede gehört haben, werden sie nie vergessen. Die rein künstlerische Vollkommenheit, die diamantene Klarheit und diamantene Härte sind wohl ihre nebensächlichsten Vorzüge; die Zuhörer sahen vielleicht diese äußere Schönheit gar nicht, ebenso wie ein Durstender die Schönheit des Gefäßes nicht sieht, daraus er trinkt.

»Das in seinem Wesen immer prophetische Menschenherz ist die ewige und unerschöpfliche Quelle aller Religionen und jedes religiösen Schaffens. Also muß in der Kirche das Prophetentum wieder erstehen,« antwortet Kartaschow auf die Frage von der Erfüllung der Kirche. »Die Kirche weiß nicht mehr, wohin sich das Prophetentum verflüchtigt hat. Prophetischen Geist atmet jetzt die ganze außerkirchliche und außerreligiöse Menschheit.« – »Die Menschheit baut jetzt ohne Mitwirkung der Religion die Erde um, schafft eine neue Welt und fühlt, daß bei diesem Ausbruche der schöpferischen Tat der Segen der Zukunft auf ihr ruht.« Die Quelle des Prophetentums ist gar nicht versiegt. »Sie braust als breiter, mächtiger Strom, der sich von den einengenden Ufern der Kirche befreit hat ... Man muß ihn mit dem Strome der kirchlichen Sehnsucht nach dem Prophetentum verbinden. Man muß das leere Reservoir der Kirche öffnen, damit es vom gleichen Brausen erfüllt wird, von dem jetzt die Menschenseelen widerhallen.«

»Die religiösen Hoffnungen der Menschheit,« schließt Kartaschow, »lassen sich durch keinerlei Reformen und Reformationen und auch nicht durch das unbewegliche Stehen auf dem Felsen Petri, auf dem Felsen des Priestertums befriedigen. Nur auf den Schwingen des prophetischen Geistes, der in der Welt überall, wo er will, weht, durch die Erfahrung aller Kirchen, durch eine historische Tat der ganzen Kulturmenschheit, durch ein einzelnes religiöses Erlebnis und selbst durch ein gemeinsames Erlebnis aller Religionen können sich die Menschen im Schoße der einigen, wahrhaft weltumfassenden Kirche vereinigen, die sie an die Schwelle des Reiches Christi auf Erden führen wird. Dann erst werden die vagen Hoffnungen der Menschheit und der inbrünstige Aufschwung der Kirche zu einer wunderbaren Erfüllung zusammenfließen.«

»Sie suchen in der Kirche etwas Neues; doch in welcher Kirche? Im Rahmen der orthodoxen oder einer andern Kirche?« Diese Frage richtete an Kartaschow einer der Zuhörer, ein katholischer Priester.

Eine so gerade gestellte Frage muß ebenso unumwunden beantwortet werden. Kartaschow wich einer solchen Beantwortung aus. Hier sehen wir wieder dieselbe Unklarheit, auf die ich schon einmal hingewiesen habe: die Verwechselung oder ungenügende Scheidung der beiden Bedeutungen, die das Wort »Kirche« hat. Dies ist vielleicht der einzige trübe und schwache Punkt seines ganzen Vortrags, aber gerade hier durfte er keine Schwäche zeigen; hier müßte er unwankbar und fest sein, denn dieser Punkt ist der Stützpunkt jenes Hebels, mit dem die Idee der Kirche gehoben und ins Bereich der Weltgeschichte geschoben wird.

»Es ist unmöglich, das Gesicht eines noch ungeborenen Kindes zu sehen.« So versucht Kartaschow diese Unklarheit zu rechtfertigen. Das Gesicht des ungeborenen Kindes kann man allerdings nicht sehen, wohl aber das Gesicht seiner Mutter. Wer ist nun die Mutter der zukünftigen weltumfassenden Kirche? Eine der historischen Kirchen, oder alle diese Kirchen in ihrer Gesamtheit, oder schließlich das außerkirchliche Element der Menschheit? Kartaschow weiß es nicht oder will es gar nicht wissen. Er antwortet zaudernd: »Ich glaube, daß man sich das prophetische Schaffen in der Kirche als über die Grenzen der kanonischen Disziplin hinüberfließend vorstellen soll. Ich glaube, daß man an eine neue Sekte, an eine neue Konfession denken muß.« »Ich glaube« – das genügt dem Gedanken, aber nicht dem Willen; dem Schauen, aber nicht dem Handeln.

»Die Weltgeschichte haucht uns eher mit der Vorahnung einer Tragödie als mit der eines Idylls an,« fährt Kartaschow in seinen Zweifeln fort. Haucht sie uns denn nur an? Ist denn die Katastrophe, deren Zeugen wir jetzt sind, nur ein Hauch und kein Orkan? Darf man überhaupt noch zweifeln, ob es eine Tragödie oder ein Idyll ist?

»In der Kirche muß das Prophetentum wieder erstehen.« Das ist leicht gesagt. Kartaschow weiß aber, daß das Priestertum und das Prophetentum religiöse Antinomien und miteinander unversöhnlich sind. Die historische Kirche hat ja darum den prophetischen Geist verloren, weil das Priestertum ein Übergewicht über das Prophetentum erlangt hat. »Der Prophet macht mit seinem Geiste dem Priester Angst.« Der Priester wittert im Propheten den »Teufel«. »Dieser Mensch ist besessen,« sagt der Priester auch heute noch von einem Propheten, wie es einst von Dem, der über allen Propheten steht, gesagt worden ist.

»Man muß das leere Reservoir der Kirche öffnen, damit es vom gleichen Brausen erfüllt wird, von dem jetzt die Menschenseelen widerhallen.« Auch das ist leicht gesagt. Hat die historische Kirche überhaupt ein solches Reservoir? Und wenn sie eines hat, wird es vor diesem Donner nicht in Stücke gehen?

Nein, kein Sturm des Prophetentums wird den Felsen Petri von seinem Fleck rühren. Und je unwankbarer, je unerschütterlicher er bleibt, um so heiliger ist er und um so treuer erfüllt er seine Bestimmung; denn die Bestimmung der Kirche Petri ist nicht das Schaffen, sondern das Bewahren und das Weitergeben des einmal Geschaffenen. Die Heiligkeit dieser Kirche liegt in diesem Weitergeben, in der Überlieferung und nicht im Prophetentum. Das Antlitz Christi durch alle Zeiten und Geschlechter unverändert zu tragen, – ist ja auch keine geringe Aufgabe. Ohne die historische Kirche würden wir wohl gar nicht wissen, was Christus ist.

An der äußersten, der Zukunft zugekehrten Peripherie dieser Kirche ist das Licht Christi schon im Erlöschen, und die Kirche sieht nicht, wohin sie geht und wohin man sie führt. »Ein anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hin willst.« Es gibt zwei falsche Theokratien, zwei Fälschungen der Person Christi – durch den abendländischen Pontifex und durch den morgenländischen Zaren – zwei welthistorische Wege, auf denen die Kirche Petri nicht von Christus, sondern vom Andern geführt wird.

So ist es von außen, aber nicht von innen. In ihren Tiefen, in ihrem Herzen »strahlt diese Kirche nach wie vor in unverwelklicher Schönheit, in bezauberndem, vom Himmel kommenden Lichte, das aber ein Abendlicht ist« – das weiß Kartaschow besser als irgendein Mensch. Zugleich weiß er auch, »daß der Menschengeist, der die blutroten Abendstrahlen nicht länger ertragen kann, nach der ihnen entgegengesetzten Morgenseite strebt, wo er die weißen Morgenstrahlen eines neuen Tages zu erspähen hofft«.

Kartaschow selbst steht auf der Grenzlinie zwischen den weißen und den blutroten Strahlen. Auf dieser Linie kann er wohl auch länger stehen bleiben; er kann aber keinen Schritt tun, ohne sich zuvor für die eine oder andere Richtung entschieden zu haben, ohne die Frage beantwortet zu haben, wo die kommende weltumfassende Kirche sich erfüllen wird: innerhalb oder außerhalb der historischen Kirchen?

Ebenso wie der Mensch nicht zweimal geboren wird, so kann er auch nicht zweimal in die Kirche eintreten. Wer sie einmal verlassen hat, der tritt in sie nie wieder ein. Die Menschheit ist aus der historischen Kirche ausgetreten. Man muß zugleich mit ihr aus dieser Kirche austreten, um in die weltumfassende Kirche der Zukunft zu kommen, um aus dem blutroten Abendlichte ins weiße Morgenlicht zu treten.

Es ist aber ein schrecklicher Schritt. Nur denen, die niemals in der Kirche waren, erscheint er leicht und unblutig; aber jeder, der in der Kirche war, weiß, daß es den schwersten und blutigsten Riß in der Menschenseele bedeutet.

Wird sich Kartaschow zu diesem Riß entschließen? Wenn nicht, so bleibt er der große religiöse Theoretiker; und wenn ja, so hat Rußland, nach seinen so prophetischen und feurigen Worten, wie wir sie, ich wiederhole es, seit Tschaadajew nicht gehört haben, zu schließen, in ihm einen großen schaffenden Geist gewonnen.

 


 << zurück