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Drittes Kapitel

Am späten Abend kam Donat Zurbriggen in Genf an und trat aus dem alten Bahnhof ins Freie hinaus. Über einen Platz lief eine breite Straße nach einer großen Brücke hinunter. Beide waren hell beleuchtet, und von weitem erblickte Donat den See. Die goldnen Lichtlanzen, die die Fenster warfen, stachen in die dunkle Flut. Zur Rechten lagen die schweren, schwarzen Schatten einiger alter Laubbäume. Der Blick vermochte sie nicht zu ergründen. Das berührte Donat seltsam. So wußte er auch nicht, was morgen und künftig mit ihm werden wollte.

Er schlenderte ein Stück die Straße hinab. Den Koffer hatte er in der Gepäckablage gelassen. Vorerst wollte er ein Nachtquartier suchen.

Hüben und drüben standen vornehme Gasthöfe. Er blieb vor dem einen stehen und schaute durch die Eingangstür in die große, helle Halle. Der Hochmut stach ihn. Warum sollte er nicht hier absteigen? Niemand kannte ihn. Er hatte etwas Geld in der Tasche. Warum also nicht einmal den Herrn spielen? Die Mutter hatte auch dergleichen Gelüste gehabt. Dann überlegte er. Vielleicht mußte er lange auf Arbeit und Verdienst warten. Dann brauchte er sein Geld. Damit ging er zögernd an der lockenden Pforte vorbei. Etwas in ihm brannte wie ein beinahe körperlicher Schmerz: Warum war er ein Nichts- und Nirgendher? Und der Hunger nach Emporkommen quälte ihn ärger.

Er schlenderte weiter. Ein Gedanke schoß heim nach Aufdenmatten zu Vater und Schwester. Aber das war nur, wie wenn ein Pfeil fortfliegt. Dann war sein Sinn wieder bei der Gegenwart.

Jetzt bog er in eine Seitengasse ein. An einer schmutzigen Hausmauer hing eine Tafel. Er entzifferte mit Mühe die Firma einer Stellenvermittlerin. Morgen, dachte er und schrieb sich die Stelle ins Gedächtnis.

Tiefer in das Gäßlein eindringend, stieß er auf eine Laterne, die mit einer schläfrigen Trübheit auf den Namen eines Gasthofs zündete. Donat ärgerte sich, daß es so etwas Viertklassiges gab, noch mehr aber, daß das für Leute seines Geldsäckels gerade das Richtige schien. Schließlich nahm er einen verdrossenen Anlauf und stand gleich darauf in einem Flur, dessen Kahlheit der Unsauberkeit der äußeren Hausmauer entsprach. Eine steile Holztreppe führte nach oben.

Aus einem Raum neben der Haustür drang der Lärm einiger Stimmen. Eine Überschrift über seiner Tür besagte, daß da ein Restaurant sei. Ganz im Flurhintergrunde aber, halb unter der Treppe in einer Art Unterschlupf, an dessen einer Wand ein Schlüsselbrett hing, saß breit über einen Tisch geworfen ein alter unsauberer Mann mit einer schief aufs Ohr gerutschten Hausdienermütze. Ihre Tressen und ihre Aufschrift waren einmal golden gewesen. Jetzt vermochte kein Mensch mehr diese zu lesen. Aber der Mann erhob jetzt erwachend ein graues Gesicht mit roten, weinseligen Augen und einem verwüsteten Kotelettenbart. Mit einem aus Mißtrauen und Mißachtung gemischten Ausdruck betrachtete er den gepäcklosen Ankömmling.

Donat nahm seine in der Schule gesammelten spärlichen Sprachkenntnisse zu Hilfe und fragte, ob er ein Zimmer bekommen könne.

Der Türhüter brachte seine Zweifel an der Zahlungsfähigkeit des Kunden zum Ausdruck, indem er eine Preiszahl murmelte.

Donat aber flog sein Selbstgefühl wieder mächtig zu Kopf, und er warf mit einer herablassenden Gebärde die geforderten zwei Franken auf den Tisch.

Der Hausdiener arbeitete sich von seinem Stuhl auf, zog die Hose, die ins Rutschen kam, über den von einem unsauberen Hemde bedeckten Bauch und trat mit einem vom Brett geklaubten Schlüssel, Donat voransteigend, eine lange Reise die steile Treppe hinauf an. Eine einzige spärliche Lampe brannte. Der Aufstieg vollzog sich meist in Dunkelheit, unter Schweigen und Tasten.

Donat dachte an seinen Koffer und daß er ihn von der Bahn noch hätte holen sollen. Vielleicht, so schien ihm, wäre dann auch die Achtung seines Begleiters gestiegen. Aber er war müde und bereit, irgendein Bett als das für diesen Abend einzig noch wichtige zu betrachten.

Endlich landeten sie im Dachstock, über kreischende Flurbretter schreitend, vor einer Tür. Der Hausdiener reichte Donat den Schlüssel, deutete mit einer stummen Kopfbewegung auf das dazu passende Loch und schlurfte ebenso schweigend die Treppe wieder hinab, so daß Donat sich fragte, warum er eigentlich mit ihm heraufgekeucht sei.

Hinter der bezeichneten Tür fand der Gast an der Wand den Lichteinschalter und gewahrte im Schein des an der Decke aufzuckenden Fünkleins, daß er sich in einem engen, abgeschrägten Raum mit Bett, Stuhl und einer dürftigen Wascheinrichtung auf dem mit einem Wachstuch bedeckten Tisch befand. Treppe und Flur hatten nicht mehr Reinlichkeit erwarten lassen, als die Bettvorlage verriet, deren Blumenmuster in ein Chaos unbestimmter Farben zertreten war. Donat war mit der Mutter einmal in ein paar Zimmer des Grand-Hotel Ewigschneehorn gekommen. An deren Behaglichkeit mußte er jetzt denken und fand den Anfang seiner Laufbahn nicht großartig. Die Abneigung gegen all das Minderwertige, Unzulängliche, die die Mutter schon immer gestochen und mit der sie ihn angesteckt, rumorte in ihm. Eine richtige Wut packte ihn, daß er, Donat Zurbriggen, in diesem Winkel nächtigen sollte. Die Zähne zusammensetzend, beschloß er einmal mehr, daß es mit ihm anders werden müsse. Sehen wollte er noch, ob er nicht in die Höhe kam.

Nach einigem Zögern setzte er die Schuhe vor die Tür. Vielleicht fand er sie morgen nicht mehr, dachte er mit grimmigem Humor. Weil ihn aber vor dem übelriechenden Bett ekelte, legte er sich in Kleidern und Strümpfen hinein.

Es war aber schon heller Tag, als er am andern Morgen erwachte. Er machte sich zurecht, so gut es ging. Vor der Tür fand er die Schuhe. Sie waren noch da und staubig wie er sie gestern hingestellt. Er zog sie an und kletterte die Treppe wieder hinunter.

Im Flur war niemand, auch der Hausdiener nirgends zu sehen. Nur durch die angelehnte Tür der Wirtschaft tönte Stuhlrücken und Gläserklirren. Donat schob sich vorbei. Ein leiser Brechreiz saß ihm in der Kehle. Wenn er nur erst aus dem Hause war! Aber als er aus der Gasse wieder in die morgenhelle Hauptstraße trat, sah er überm See Berge leuchten. Da wurde ihm die Brust weit. Und er brannte darauf, auf seinem Wege vorwärtszukommen. Er frühstückte im Bahnhof, und beim Gedanken, daß drüben in der Gepäckablage sein Koffer lag, war ihm, er sei in der Stadt schon mehr daheim. Den Kopf steif im Nacken, trat er nachher den Gang zum Stellenvermittlungsbüro an. Es fiel ihm ein, daß Leute oft wochen- und monatelang auf Anstellung warten mußten; aber es schien ihm, als könne ihm selbst so etwas nie geschehen.

Die Sonne blieb in der Hauptstraße zurück, als er abermals in die bekannte Gasse eintrat. Einen armen Rest ihres Glanzes sah er hoch über seinem Kopf um eine Dachrinne spinnen. Schatten fiel auch in sein Inneres. Seine Zuversicht sank ein wenig. Aber er fand das Kontor, an dem ein gleiches Firmenschild wie außen an der Hausmauer befestigt war. Er klopfte an die Tür, und sein Herz klopfte mit. Keine Antwort kam. Er klopfte lauter, selbstbewußter; schließlich war er ja hier Kunde. Da noch immer kein Bescheid kam, drückte er auf die Klinke. Ein altmodisch eingerichtetes Wohnzimmer, das offenbar als Warteraum diente, aber vorläufig noch keine Gäste hatte, öffnete sich ihm. Der Möbel hatte sich schon lange kein Staubtuch mehr erbarmt. Er hatte sich aber noch nicht entschieden, ob er sich auf einen der fleckigen grünen Polsterstühle niederlassen solle, als aus einem Nebenzimmer die Geschäftsinhaberin eintrat. Sie hatte ein unendlich verrunzeltes, aber gutmütiges Gesicht und trug eine graublonde wunderbare Perücke, die niemand auf der Welt hätte für echtes Haar ansehen können. Ihr Gruß klang noch zögernd und mißtrauisch, dann aber glitt der Blick ihrer in ihre Höhlen zurückgetrockneten grauen Augen wohlgefällig über Donats Gestalt und nahm zur Kenntnis, daß sein blasses, fein geschnittenes Gesicht einen ungewöhnlich intelligenten Eindruck machte.

»Frau Schnurrenberger?« fragte Donat, die Firmatafel repetierend, und fügte, als die Alte zustimmend nickte, hinzu: »Ich komme wegen einer Stelle. Ich möchte Arbeit finden.«

Die Frau schaute auf die Uhr, die über dem Sofa tickte. »Das Büro ist erst von neun Uhr an geöffnet«, bemerkte sie mit einiger Würde, schien aber dennoch nicht willens, ihn wieder hinauszuwerfen.

»Man wartet nicht gern, wenn man nicht weiß, was aus einem wird«, antwortete Donat, und weil er des Stehens müde war, setzte er sich.

Die Vermittlerin entledigte sich einer sackartigen Arbeitsschürze. Dann holte sie ein Kundenbuch, schlug eine blanke Seite auf und frug Donat nach seinen Personalien. Er gab sie, und sie notierte. Als er als Heimatsort Aufdenmatten angab, blickte sie auf und sagte: »Ich hätte Euch nicht für einen Bergbuben angesehen. Was für einen Beruf habt Ihr denn?« fragte sie dann.

»Das wollte ich Sie fragen«, gab Donat zurück. »Es scheint mir weniger wichtig, was man tut, als daß man mit dem, was man tut, irgendwohin kommt.«

»In Eueren Jahren sollte einer schon wissen, was er will«, urteilte die Frau.

Er schnitt ihr die Rede ab. »In den Bergen stehen wir alle an den Straßen und warten auf Verdienst. Gepäck tragen, den Führer machen, im Stall oder im Gasthaus helfen, taglöhnern oder zuletzt sich von einem Abknipser photographieren lassen, etwas gibt es am Ende immer.«

»Habt Ihr denn nichts gelernt?« wunderte die Vermittlerin.

»Schreiben und Rechnen«, erwiderte Donat ruhig, »sonst nichts.« Er war nicht enttäuscht. So hatte er sich alles gedacht. So hatte er vor dem Leben stehen wollen und warten, was für Hände es ihm entgegenstreckte.

»Es ist eine böse Zeit«, seufzte Frau Schnurrenberger. »Arbeitslose laufen herum wie die Ameisen.« Sie blätterte in ihrem Buche. »Bei mir allein sind gegen hundert junge Leute eingeschrieben«, bemerkte sie.

Donat faltete die Stirn. »Einen Schuhputzer wird man wohl noch irgendwo brauchen können«, schlug er vor.

Die Frau hörte das nur halb. Sie hegte eine gewisse Teilnahme für junge Männer von einiger Ansehnlichkeit. Das alte Herz in ihr popperte, wie es das im Leben bis zur Ausgeleiertheit oft getan hatte. Dann hafteten ihre Augen an einer Seite ihres Buches. »Hm«, murmelte sie.

Donat spitzte die Ohren.

Die Frau nahm einen Zettel und schrieb etwas auf. »Das Grand-Hotel Beau Séjour nimmt einen Volontär auf«, überlegte sie laut. Dann wollte sie wissen, ob Donat eine Kellnerausstattung habe.

Er lachte. »Wenn ich alle Uniformen hätte mitbringen müssen, in die man mich möglicherweise stecken könnte, hätte ich mit einem Möbelwagen statt eines Handkoffers reisen müssen.«

Wieder maß ihn die Frau. Auf den Kopf war er nicht gefallen, dachte sie. Schließlich faltete sie ihren Zettel zusammen und reichte ihn ihm. »Drei Franken macht die Einschreibgebühr«, bemerkte sie.

Donat betrachtete die Adresse und legte den verlangten Betrag auf den Tisch.

Die Frau wies ihn: »Dem See entlang, links von der großen Brücke. Es steht da ein Gasthof neben dem andern.«

Donat steckte das Papier zu sich. Er ließ sich blasen wie der Wind wehte. Es war ihm, als sei ihm bestimmt, so gleichsam gewirbelt zu werden und irgendwo hängenzubleiben.

In der Straße legte er sich zurecht, wie er zu gehen habe. Und im Weiterschreiten dachte er wieder an Vater und Schwester. Er wurde sich sonderbar bewußt, wie anders er war als sie. Der Vater klebte an der Scholle. Der war wie ein Stück von Aufdenmatten selber, wie ein Baum aus einem Arvenwald oder ein von der steilen Ewigschneehornwand abgesprungener Block. Und die Anschi! Die gehörte ebensogut da hinauf. Wie die kleine Gentiane, die so eigen blau aus tiefgrünem Sumpfgras leuchtete, oder wie der Lichtstrahl, der am Abend streichelnd über die Hausbank glitt. Warum mußte er an diese schönen Dinge denken, wenn er sich der Schwester erinnerte? War sie auch so ein Stück Heimat und Heimlichkeit? Es wurde ihm sonderbar weich im Gemüt. Er konnte sich vorstellen, daß man, wenn es einem recht elend ginge, liefe, bis man wieder bei der Anschi war, und daß man dann meinte, man säße im warmkühlen Schatten, weit von allem Händel und allem Weißnichtwohin der Welt.


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