Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierzehntes Kapitel

Donat Zurbriggen, der Sekretär im Station-Hotel in London, hatte gerade Muße und saß, eine Zeitung in den Händen, im Kontor. Er war nun schon nicht mehr nur eine Nummer im Stabe der Hotelangestellten. Er war eine Persönlichkeit. Seine Anstelligkeit, seine Sprachgewandtheit und eine nicht gewöhnliche vom blassen Gesicht abzulesende Intelligenz erregten die Aufmerksamkeit der Kundschaft. Es zeigte sich, daß man mit ihm auch über Dinge reden konnte, die außerhalb seiner dienstlichen Obliegenheiten lagen. Auf Ausgängen hatte er London und seine Sehenswürdigkeiten gründlich kennengelernt und war ein guter Ratgeber für Neulinge und Leute, die die Stadt zu sehen wünschten. Er kannte aber noch viel besser seine eigene Heimat, und da unter den Gästen des Hotels viele waren, die die Schweiz liebten und gern von ihr sprachen, so bekam er häufig Gelegenheit, auch ihnen mit seinen Kenntnissen zu dienen. Die Frauen unterhielten sich besonders gern mit dem auch im Äußern gepflegten und in seinen Manieren ganz unbäurisch gewordenen jungen Menschen, aber auch die Männer fanden an ihm Gefallen. Man lenkte die Aufmerksamkeit der Hotelleitung auf ihn. In verwunderlicher Bälde wurde auch jetzt aus dem Lehrling ein gutbesoldeter Angestellter. Man fing an, ihn mit kleinen Sonderaufgaben, wie Verhandlungen mit Reisegesellschaften und Durchführung von Festanlässen im Hotel und dergleichen, zu betrauen. Dadurch wurde er immer mehr in den Kreis der höheren Hotelangestellten hineingezogen, so daß der kleine Kellner Henry ihn wenig mehr zu sehen bekam. Donat war auch in ein besseres Zimmer in einem untern Stockwerk übergesiedelt, wo Henry ihn nicht mehr besuchte. Dieser verfolgte ihn und seine Wege nur von fern. Freilich behielt sein Blick dabei etwas Scharfgespanntes, fast Polizeihaftes.

Donat selbst war zufrieden. Ob er glücklich war, wußte er nicht. Viele Arbeit und das Immergleiche des Tagwerks ließen ihn nicht recht zum Nachdenken über sich selbst kommen. Im Trubel der Tage hatte er auch der Pflicht, die Beaudrier ihm aufgebunden, weniger gedacht. Zwar war er unter dem Eindruck jenes Gespräches mit Henry schon am darauffolgenden Tage auf die Polizei gegangen und hatte sich erkundigt, ob man von einer Frau Adrienne Schelbert mit ihrer Tochter etwas wisse, aber man hatte ihm lachend bedeutet, London sei groß, England noch größer, und wenn er nicht mehr wisse, als daß irgendwo auf der Insel die beiden zu finden sein könnten, so lohne es kaum, Nachforschungen anzustellen. Dennoch hatte Donat dann noch etwas Weiteres getan. Er erließ in der »Times« einen Aufruf, in dem er »behufs wichtiger Mitteilung« Frau Schelbert oder ihre Tochter sich zu melden bat. Aber er blieb ohne Antwort. Unter irgendeinem inneren Zwang hatte er dann Henry einmal gestellt und gesagt: »Ich suche immer noch eine Bekannte von Charles wegen Geld, das er ihr hinterlassen« und hatte ihm das Inserat vorgewiesen. Henry hatte große Augen gemacht. Vieles wurde ihm klar. Aber er hatte die Achseln gezuckt, mehr Vertraulichkeit erwartet und war, als sie ihm auch diesmal nicht gewährt wurde, ärgerlich seiner Wege gegangen. Seither behielt die Angelegenheit den Charakter eines in eine Rumpelkammer versorgten Gegenstandes. Nur wenn Donat einmal über seinen alten Koffer ging und auf Beaudriers Paket stieß, pfiff ihm der Gedanke durch den Kopf, daß da in einer langen, ungenützten Zeit ein schon ansehnliches Kapital wuchs und auf seinen Eigentümer wartete. Und dann konnte er sich nie eines leisen Neidgefühls erwehren und zugleich eines Ärgers, daß die Eigentümerin dessen, was er in Verwahrung hatte, nicht endlich auftauchte und in Besitz nahm, was ihr gehörte. –

Donat faltete jetzt sein Zeitungsblatt auseinander. Es war eine Fremdenzeitung aus Aufdenmatten, eines jener zu Reklamezwecken auch ins Ausland gelangenden Blätter, die niemand liest, wenn nicht einmal einer in der Liste der Hotelgäste zufällig einen Bekannten sucht. Donat hatte sie zufällig im Lesezimmer des Hotels entdeckt, und das Wort »Aufdenmatten« hatte eigentümlich in ihn hineingeleuchtet. Ein Ursprüngliches, Naturhaftes war in ihm, Donat, wieder lebendig geworden. In der Fremde zum Weltkind geworden, spürte er auf einmal wieder etwas von seinen Ursprüngen, seinem Bauerntum, seinem Vaterteil. Nicht, daß er sich sein Leben anders gewünscht hätte! Er war zu sehr der Sohn seiner Mutter, als daß er nicht der hätte bleiben wollen, der er jetzt war, aber er merkte plötzlich, daß er noch eine zweite Wurzel hatte und daß diese in dem rauhen Boden seines Bergtals steckte und nicht ausgerottet werden konnte. Er drehte die Zeitung in den Händen und blätterte darin, ohne zu lesen. Der Gedanke, daß dieses Papier in der ihm wohlbekannten kleinen Ortsdruckerei in Aufdenmatten durch die Maschine gerollt war, bereitete ihm Freude. Wie lange hatte er wieder von daheim nichts gehört! Wie mochte es ihnen da oben ergehen, dem Vater und der Schwester! Und warum hatte er selbst ihnen nie mehr ein Lebenszeichen gegeben? Eine laue Lust, zu schreiben, befiel ihn wieder einmal. Dann begann er, sich die einzelnen Seiten des Zeitungsblattes näher anzusehen. Er stieß auf Namen einiger Geschäfte, die er kannte, auch auf den des Großrats Allmendinger und seines Hotels. Plötzlich fand er eine fettgedruckte Aufschrift: »Das Unglück am Ewigschneehorn«. Er bog sich unwillkürlich tiefer über das Blatt, las aufmerksamer und fühlte, wie eine Art Schrecken ihn durchströmte. »Mit den fremden und durch ihre bisherigen Leistungen ausgezeichneten Bergsteigern«, las er, »haben auch zwei unserer bewährtesten Führer ihr Leben eingebüßt.« Dann sprang ihm der Name des Gallus Stettler in die Augen. Er erinnerte sich wohl. Gallus war mit ihm ins gleiche Schulhaus gegangen. Seine Schwester Anschi hatte sich mit dem blonden, wackeren Burschen wohl verstanden! Dann las er weiter: »Gallus Stettler war bekanntlich der Schwiegersohn des weit über unsere Grenzen hinaus bekannten Seniorführers Arnold Zurbriggen.«

Donat ließ die Zeitung sinken und schaute ins Leere. Wie lange mußte das her sein, daß er ohne Nachricht von daheim geblieben und keine gegeben hatte! Anschi hatte also inzwischen geheiratet! Und der Tod ihr schon wieder den Mann genommen! Wer wußte, ob der Vater noch lebte? Wer, wie die Ortschaft selbst inzwischen ihr Gesicht verändert? Ein jähes Heimweh packte ihn. Nie vorher war er sich in dem großen Hotel, in der Riesenstadt London verlorener vorgekommen. Es schmerzte ihn, daß Dinge sich hatten ereignen können, die ihn so nahe angingen, ohne daß er daran irgendeinen Anteil gehabt. Dann begann er, sich gegen seine Schwächeanwandlung zu wehren. Er hatte ja nicht Ursache, unzufrieden zu sein. Er war vorwärtsgekommen. Gehörte er nicht schon ein wenig zum Herrenvolk, zu dem schon die Mutter gern gehört hätte? Aber schon stutzte er wieder. Was hatte schließlich ein kleiner Hotelsekretär zu bedeuten? Wie groß war noch die Kluft zwischen ihm und jenen Gesellschaftsschichten, in denen etwa die Dülbergs lebten! Die Dülbergs! Wie er nur auf einmal wieder auf den Namen kam? Sein Blick verschleierte sich. Wieder einmal ging still, wie hinter Nebeln, Ursula durch seine Gedanken. Aber auch das ging vorüber; und es blieb nur die leise Ungeduld über sein ihm immer noch zu langsames Vorwärtskommen. Er las weiter in dem heimischen Blatt. Sein Innerstes blieb aufgewühlt. Seine Empfindungen verwirrten sich. Mit neuerwachter Unbefriedigtheit mischte sich das leise Heimweh. Dann war plötzlich das Unbehagen über das Geld, das in seinem Koffer lag, wieder da. Wann würde sich der Eigentümer finden? Hatte er denn nicht sein Mögliches zur Auffindung getan? Konnte er denn den Namen der Schelbert täglich in die Zeitung setzen? An diesem Gelde war ein Fluch! Obgleich er es nie berührte, klebte es ihm gleichsam an den Fingern. Und was war das? Wenn unten im Kontor die Post einlief, fing sein Herz zu klopfen an, als könnte sich darunter die langerwartete Meldung der Adrienne Schelbert befinden. Was bedeutete das? Fiel es ihm denn schwer, sich von Beaudriers Vermächtnis zu trennen? Wollte er etwas von dem Geld? Nein doch! Aber er hatte sich an dieses Vermögen gewöhnt wie an ein Eigentum, wie an – eine Kostbarkeit.

Donat ballte die Faust. Er hätte sich selbst schlagen mögen; denn er wußte, daß er versuchte, sich selbst zu belügen. Dann zwang er seine Gedanken gewaltsam von dem Gelde des Beaudrier hinweg. An Anschi mußte er jetzt doch denken, redete er sich vor, und an ihr Unglück. Mußte er ihr nicht ein paar Worte des Trostes schreiben? Sollte er nicht vielleicht sogar wieder einmal nach Hause fahren, um zu sehen, wie die Dinge in Aufdenmatten standen? Aber – aber das Geld des Beaudrier!

Am folgenden Tage trug Donat Zurbriggen einen neuen Aufruf der Adrienne Schelbert zur »Times«. Es hatte ihm nicht Ruhe gelassen. Und ruhelos blieb er die nächsten Tage erst recht über dem Warten auf Antwort.

Aber auch diese Warte- und Unruhezeit mündete zuletzt wieder im Alltag.

Von den Schelberts verlautete nichts.

Henry Krebs, der, aufmerksam wie er nun einmal war, auch Donats neuesten Aufruf in der »Times« erluchst hatte, ließ die Bemerkung fallen: »Du hast Glück, Donat, die ›Times‹ und wer sie liest, will nichts von dir wissen.«

Donat erschrak, wie er schon manchmal erschrocken war. Nachher war er froh, daß der andere die Sache nicht weiterverfolgte, blieb einige Tage unsicher und vergaß dann auch diesen kleinen Zwischenfall, wie er die andern vergessen hatte. Er hatte aber angefangen, dem heimischen Fremdenblatt, in dem er die Nachricht von dem Bergunglück gelesen, mehr Aufmerksamkeit zu schenken und pflegte es jetzt jeweilen gleich bei der Ankunft durchzusehen.

Als er sich eben durch den Kopf gehen ließ, ob er sich eine andere Stelle, vielleicht eine Beförderung suchen solle, fand er in dem Blatte eine Anzeige, wonach der Besitzer eines großen Hotelunternehmens in den Schweizer Bergen einen Direktor suchte, dem je nach Umständen eine finanzielle Beteiligung in Aussicht gestellt wurde.

Er legte die Zeitung fort. Zum Direktor war es für ihn doch wohl noch zu früh, und so viel hatte er sich noch nicht erspart, daß er hätte namhafte Einlagen machen können. So ging ihn, wie ihm schien, die Sache nichts an.

In den nächsten Tagen lebte er seinen Pflichten, saß über seinen Büchern, schrieb, rechnete, stand am Empfangstisch Rede, geleitete ankommende Gäste nach ihren Zimmern, setzte sich zu den Mahlzeiten, machte Feierabend und begab sich zu Bett. Er lief auch an einem Freinachmittag in die Stadt, um kleine Einkäufe zu besorgen. Aber alle die Zeit stand und lief und ruhte etwas neben ihm. Wie ein zudringlicher Schwätzer, der ihm in den unwilligen Ohren lag: »Gesucht in großes Hotelunternehmen des schweizerischen Hochgebirgs jüngerer, energischer Direktor. Finanzielle Beteiligung erwünscht.«

Er sträubte sich gegen diese sonderbare unkörperliche, fast gespenstische Begleitung. Es geschah, daß er sich in einer Art plötzlicher Verzweiflung die Ohren zuhielt, daß er sich in jähem Zorn zwang, anderes zu denken. Aber es half ihm nichts. Am allerschlimmsten wurde es nachts, wenn er sich zum Schlaf strecken wollte. Sein Herz begann plötzlich zu schlagen, laut, lauter wie die Hufschläge eines durchbrennenden Pferdes. Und jeder Schlag war ein Wort: »Gesucht in ein großes Hotelunternehmen« und so weiter und so weiter. Noch drang das Ganze nicht recht in sein Bewußtsein, noch klang alles wie etwas mechanisch Auswendiggelerntes, das das Ohr mehr als der Verstand aufgefaßt hat. Erst nach und nach gewann der Begriff »Direktor« Gestalt. Direktor! Das war die Stufe, die Donat zu erklimmen sich vorgenommen, so bald zu erklimmen aber weder gehofft noch zu hoffen berechtigt gewesen. Nun aber wurde das Wort, der Begriff zu einer Art Irrlicht, das ihn neckte und lockte. War es von vornherein ausgeschlossen, daß ihm eine so rasche Beförderung beschieden sein könnte? fragte er sich und antwortete sogleich: Nein doch! Warum sollte nicht auch er Glück haben? Als er aber einmal die Möglichkeit ins Auge gefaßt hatte, daß er schon jetzt in eine höhere Stellung einrücken könnte, fiel ihm erst ein, daß diese Stellung in der Heimat winkte. Und nun erwachte und bedrängte ihn etwas Neues. Nebelhafte Gestalten tauchten auf, die Mutter, die lebensunzufriedene und ihm doch so nahe, der wortkarge Vater, Anschi, die Schwester, an der er besonders gehangen und dann – seltsam und entrückt– Ursula Dülberg. Sonderbar, daß auch sie immer da war, wenn in ihm allerlei Wünsche erwachten! Er hätschelte die Bilder, überließ sich ihnen, fand eine Art schmerzlicher Freude, sich ihrer Aussichtslosigkeit zu erinnern. Allmählich aber bekamen sie Gewalt über ihn. Ihn, der sich jahrelang nicht um Vaterland und Familie gekümmert und nur ganz selten sich ein wenig heimgewünscht hatte, faßte das Heimweh mächtiger als je vorher. Dann rückte die Zeitungsanzeige, die ihm gleichsam den Weg in die Heimat aufschloß, immer mehr in den Kreis seiner Gedanken. Er nahm jenes Blatt aus dem Hotellesezimmer fort und trug es in seine eigene Stube. Immer und immer wieder, obgleich er sie längst auswendig wußte, buchstabierte er an der Anzeige herum. Finanzielle Beteiligung, las er, und wieder und wieder: Finanzielle Beteiligung. Was ging das ihn an? fragte er sich. Ihn, der nur ein paar hundert Franken besaß? Aber als er die Worte oft genug gelesen, stand irgendwo wie ein aus Dunkelheit und Verborgenheit auftauchendes kleines Licht ein neuer Gedanke. War er schon vorher gewesen? Schon vorher wie ein Blitz vorübergezuckt? Er grübelte darüber nicht. Aber eines Tages beugte er sich über seinen Koffer und nahm wieder einmal die Dokumente des Beaudrier heraus. Er schlug sie auf, las Zahlen, die er längst kannte, nahm ein Blatt Papier und berechnete, wieviel Zinsen aufgelaufen waren. Plötzlich, mitten aus aller Versunkenheit, glitt er verstohlen an die Zimmertür, die er abzuschließen vergessen, und drehte den Schlüssel. Dann saß er lange, die Bücher auf den Knien. Es wurde ihm heiß und kalt, als ob ein Fieber ihn schüttelte. Er stritt mit einem Plan. Er balgte sich mit ihm, rang mit ihm, war Meister über ihn und wurde gleich darauf von ihm gemeistert. Jetzt schloß er jede Möglichkeit aus, das fremde Geld anzutasten. Und gleich darauf setzte er sich auseinander, daß niemand zu Schaden kommen könne, wenn er das Geld in einer sichern Anlage festlegen und weiter zur Verfügung der eigentlichen Eigentümerin halten würde, der Frau, die all seine Mühe bisher nicht hatte finden können.

Tagelang dauerte der Kampf des Donat Zurbriggen. Aber allmählich schwand ein Bedenken ums andere. Die Tatsache, daß der Wert des Geldes derselbe bleiben würde, schimmerte immer heller und herrlicher aus allem Zögern heraus. Schon begann Donat sich manchmal einzureden, daß er vielleicht der Adrienne Schelbert durch die geplante Neuanlage sogar einen Vorteil verschaffen würde.

Eines Nachts schien ihm die Sache so natürlich, daß er den Morgen kaum erwarten konnte, um sie durchzuführen.

In der Frühe des nächsten Tages schrieb er, die Anzeige vor sich, seine Eingabe mit der Bemerkung, daß er glaube, den an den ausgeschriebenen Posten geknüpften Anforderungen gerecht werden zu können und daß er in der Lage sei, eine Interesseneinlage von fünfzigtausend guten Schweizer Franken anzubieten. Als er den Brief schloß, hatte er ein Gefühl plötzlicher körperlicher Übelkeit. Aber er überwand es und machte sich auf den Weg zum Briefkasten in der Halle unten. Unterwegs betrachtete er die Initialen, unter denen die Anmeldung verlangt worden war, erinnerte sich, wie lange Zeit schon verstrichen, wie spät die Zeitung selbst hier ins Ausland gelangt und wie unwahrscheinlich es sei, daß die Entscheidung über den Posten nicht schon gefallen. So gering erschienen ihm seine Aussichten, daß ihm wieder ganz wohl und leicht zu Sinn wurde.

Ein paarmal im Lauf der nächsten Tage blitzte Neugier in ihm auf: Wo in aller Heimatwelt konnte der Ort sein, um den es sich handelte? Die Eingabestelle war eine Stadt, der Sitz der Zeitungsadministration gewesen. Aber als er nach einer Woche noch keinen Bescheid hatte, kehrte er zu den Beschäftigungen seines Alltags unenttäuscht zurück. Und manchmal atmete er auf, als sei eine Last von ihm abgefallen.

Eines Morgens – er hatte Nachtdienst gemacht und stand später als gewöhnlich auf – lag die große Hotelpost zur Verteilung auf seinem Pult, als er ins Kontor kam. Er begann mit der Sortierung. Prinzipalschaft, Gäste und Angestellte bekamen zugeteilt, was jedem gehörte. Er selbst erhielt nie Briefe. Er hatte aufgehört, auf irgendwelche Nachrichten zu warten. Von zu Hause, von der Schelbert, vollends auf die Eingabe erwartete er kein Zeichen mehr. Plötzlich fiel sein Blick auf einen Briefumschlag mit seinem Namen. Er nahm ihn auf und las den Firmenaufdruck des Hotels Ewigschneehorn in Aufdenmatten. Seltsam, dachte er und drehte den Brief in den Händen. Erregung faßte ihn. Er ließ sich an seinem Pult nieder und öffnete mit unsicheren Fingern das Schreiben. Es trug die Unterschrift des Wirtes und Großrats Allmendinger, und er war es, der für sein Hotel in Aufdenmatten einen Direktor suchte.

Donat saß ganz verwirrt da. Die Heimat stieg vor ihm auf. Wie hatte er sie so lange vergessen können? fragte er sich. Er sah das weite Tal von Aufdenmatten im weißen Glanz und in der totenhaften Ruhe des Winters. Eine Welt über der Welt! Hier unten Menschengewühl, ein Markt, eine Jagd nach Geld, eine Wirrnis von Kommen und Gehen, Lärm und Hast, Rauch und Dunst! Dort die Einsamkeit, die rauhe, reine Luft der Berge, die Menschen schwerfällig, kühl. Vielleicht wurden dort auch – Zweifel und Nöte wie sie ihn, Donat, hier bedrängten, klein und belanglos! Das Heimweh kehrte mit verdoppelter Gewalt zurück. Es riß an ihm. Es war ihm, als müsse er auf und davon. Das jähe Verlangen war so stark, daß er den Brief Allmendingers fast ohne Anteilnahme überflog. Immerhin begriff er, daß der große Mann, der in Aufdenmatten ein kleiner König war, sich freute, in ihm den Sohn eines so bewährten Landsmannes und Führers wiederzufinden, von dem, wie er auf Erkundigung höre, sein eigener Vater wenig wisse, dem es offenbar aber in der Welt gut gegangen sei, da er imstand gewesen, so bedeutende Ersparnisse zu machen. Seine Zeugnisse seien von der Art, daß sich ein Versuch mit ihm empfehle. Ihm, Allmendinger, aber liege an, es eher mit einem Landeskundigen als mit einem Auswärtigen zu wagen. Donat wisse wohl schon, daß er, Allmendinger, nicht der Mann sei, sich viel dareinreden zu lassen. Er habe auch selbst zuviel eigene Gelder in seinen Betrieben stecken, als daß er einem Mitarbeiter große Rechte einräumen könne. Er habe sich aber doch entschlossen, fremde Mittel zur Verstärkung seiner eigenen herbeizuziehen, da die lange andauernde Krise gewisse Vorsichtsmaßregeln fordere. Die Geldseite der Angelegenheit war ein wenig verklausuliert, mit vielen Worten verbrämt, als ob der Schreiber mit irgendeiner Tatsache nicht recht habe herausrücken wollen.

Buchstaben, Worte, Vorschläge und Feststellungen führten dann vor Donats Augen einen Hexentanz auf. Er kam nicht dazu, über alles eine klare Übersicht zu gewinnen. Inzwischen hatte auch der Arbeitstag begonnen. Donats Mitangestellte waren einer nach dem andern erschienen. Gäste kamen an. Pagen traten ins Kontor und nahmen Aufträge in Empfang. Die Registrierkassen klapperten. Zwei Hausdiener hingen ständig am Telefon. Mechanisch ordnete Donat die Post zu Ende und sandte die Pagen mit den zu verteilenden Briefen in die Zimmer. Er selbst ging an andere Arbeit, versäumte nichts, stellte seinen Mann wie jeden Tag; aber in seinem Kopfe ging es wie ein Rad.


 << zurück weiter >>