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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Es war Herbst, als Donat Zurbriggen wegen guter Führung ein halbes Jahr vor Ablauf seiner Strafzeit aus der Strafanstalt entlassen wurde. Auf der Fahrt nach Aufdenmatten sah er aus dem Fenster des Zuges diesen Herbst, gelbe Bäume und rote Bäume, flammend aus dem unvergänglichen Schwarz der Tannenwälder, welkes Laub auf feuchten Straßen und Wegen, zuweilen auch wirbelnd im harschen Wind, Krähen schwerfällig durch den Luftraum fallend, Krähen kreischend über vergilbten Feldern und weißes Gewölk, rastlos aufquellend und wieder verrauchend, hinter früh verschneiten Bergen.

Er hatte mit Absicht einen Abendzug genommen, und als er Aufdenmatten erreichte, war es Nacht. Der Westwind packte ihn beim Mantel, als er ausstieg, und riß ihm beinahe den Tragkoffer aus der Hand und den Hut vom Kopf. Er drückte sich diesen tiefer in die Stirn. Dann, während er über ein leeres Gleis dem Bahnhofausgang zustolperte, schaute er sich um. Mit Befriedigung stellte er fest, daß niemand auf ihn achtete. Er hatte heimgeschrieben: »Ich möchte Euch noch einmal sehen. Was dann werden soll, weiß ich noch nicht.« Dieses nicht wissen was und nicht wissen wohin hatte während der Fahrt auf ihm gelastet, und nun stürzte die Ungewißheit erst recht über ihn. Er kam sich vor wie einer, der hier nur vorüberging, hier kein Recht mehr hatte. Er hatte Angst vor der Begegnung mit Menschen. Und doch taumelte er wie trunken von langer Erwartung in dieses Aufdenmatten hinein, diesen Heimatort, in die Nachtluft und Bergfrische und Windbissigkeit. Ein wohliger Schauer durchrieselte ihn. Er hätte aufseufzen mögen: Endlich! Und doch schien ihm das Verweilen ausgeschlossen, hier am allerwenigsten möglich von allen Stätten der Welt.

Schon wollte er sich an dem kleinen Stationsgebäude vorbeidrücken, als plötzlich von hinten her eine Kinderhand in seine herabhängende Rechte sich stahl.

Er fuhr herum.

»Guten Abend, Donat«, sagte Annelein und war schon ein Schulkind und hatte sich gestreckt, stand auf derben Schuhen und hatte eine gestrickte, schwarze Kappe auf dem hellen Blondhaar sitzen. Aber die Augen waren – das sah er im Licht der Bahnhoflampen – womöglich noch blauer und glänzender geworden und saßen noch merkwürdiger versteckt unter den dunkeln Brauen. Es waren Anschis Augen.

Anschi selbst aber trat jetzt ebenfalls heran, hatte Anna auf den Bruder zugeschickt und streckte ihm jetzt auch die Hand entgegen. Ein wenig breiter und fraulicher noch war die Schwester geworden. Und es fiel Donat wieder einmal auf, daß sie ihn selbst um einen Kopf überragte. Sie mochte wohl im Hausschatten gewartet und sein Aussteigen beobachtet haben. Jetzt aber stand sie frei und barhaupt im Licht, als wolle sie, daß man sie sehe und Zeuge sei, wie sie den Bruder empfange. »Da bist du also wieder«, sagte sie und drückte Donats Rechte mit einem harten und bezeichnenden Druck, der etwa sagen wollte: Nur Mut jetzt. Jetzt heißt es den Kopf hoch halten. Schon hatte sie, während Donat das Kind mit der Linken führte, den zweiten Handgriff des Koffers erfaßt und half ihm tragen. So bogen sie in die schon angeschneite Straße ein.

»Was macht der Vater?« fragte Donat, weil doch ein Gespräch in Gang kommen mußte.

Anschi antwortete, daß es Zurbriggen gut gehe.

Inzwischen kam Donat die Weichheit der Kinderhand zu Bewußtsein, die er in der seinen hielt, und unwillkürlich zu Anna sich niederbeugend, fragte er: »Gehst gern zur Schule?«

Das Kind sah scheu zu ihm auf und nickte. Es schien stolz, neben ihm zu gehen; denn es stapfte, mit dem Ausdruck leisen Triumphes um sich blickend, fürbaß.

Er wunderte sich über sich selbst: Was bildete er sich da ein? Aber er war sonderbar zufrieden und ruhig.

Von den vergangenen Jahren fiel kein Wort.

Leute begegneten ihnen. Dann sah Donat Anschi von der Seite an, unwillkürlich forschend, ob sie sich seiner nicht schäme.

Aber sie schritt leicht und gleichmütig und froh ihres Weges, und schien die Last des Koffers nicht zu spüren.

Sie erreichten das Haus. Anschi zögerte nicht. Donat hörte keinen heimlichen Seufzer. Gänzlich unbefangen öffnete sie die Haustür, stellte den Koffer im Flur zu Boden und hängte Donats Mantel und Hut an den Nagel.

Anna war schon in die Wohnstube getreten. Jetzt wies Anschi Donat mit einer Kopfbewegung auch an, hineinzugehen.

Er gehorchte. Aber es schwindelte ihn.

Der alte Zurbriggen saß da, wie einer, der nicht weiß, was er für ein Gesicht aufsetzen soll. In ihm stritt noch das Gefühl erlebter Schande mit der Liebe zum Sohn, die in ihm spät und wie unter Asche hervor ins Glimmen gekommen war.

»Guten Abend«, klang ein Gruß hin und her. Aber die zwei Männer gaben einander nicht die Hand. Ein wenig fremd, als hätten sie sich gezankt, saß der eine auf seinem Stuhl und stand der andere in der Tür.

Anschi rückte einen andern Sessel zurecht, auf den sich Donat niederließ. Dabei sagte er: »Ihr seid noch immer der gleiche, Vater.«

»Ja«, erwiderte Zurbriggen, »so altes Holz ist wie Eisen.« Auf einmal machte er eine Entdeckung und sagte: »Wie braun du bist! Du siehst jetzt viel mehr einem Aufdenmattener gleich als früher.« Sein Blick suchte in Donats Gesicht. Der Sohn stand ihm näher als der frühere! Wie konnte einer im Zuchthaus so gesund bleiben? fragte er sich.

»Das kommt von der Arbeit im Freien«, erklärte Donat.

»Arbeit?« fragte der Alte.

Da hatten sie auf einmal einen Gesprächsgegenstand. Donat erzählte, was es in seiner Haft zu tun gegeben. Auf Frage folgte Antwort. Einmal sagte Donat: »Wenn ich über See gehe, wird es auch so sein: Ich will mir mehr für die Hände als für den Kopf Arbeit suchen.«

Der Alte stutzte: »Du gehst über See?« fragte er.

»Morgen«, nickte Donat.

»Das eilt nicht so«, wendete Anschi ein.

Und »nein, nein« bekräftigte das junge Stimmlein der Anna mitten in das Gespräch der Großen hinein. Es klang so drollig und unerwartet, daß die andern unwillkürlich lächeln mußten.

Was war das denn auf einmal? Auf einmal war Donat wieder heimisch. Er dachte nicht daran, seine Abreise zu verzögern, aber der Wille zu gehen war mit einem behaglichen Gefühl, daß man auch bleiben könnte, vermischt.

Am nächsten Morgen studierte er den Fahrplan.

Da sagte Anschi: »Einen Tag oder zwei kannst du doch noch zugeben.«

Er sagte nicht ja noch nein. Aber er ließ Stunde um Stunde vorbeigehen und blieb.

An diesen zwei Bleibetagen spaltete er für die Schwester das Küchenholz, das hinter dem Hause lag. Niemand sah ihn da. Aber weil er fühlte, daß er sich versteckte, kam ihm die Einsicht, daß hier seines Bleibens nicht sei, stärker zurück.

Bei Tisch sagte Anschi: »Was du für ein Schaffer bist? Du bringst in einem Morgen mehr beiseite, als ein Taglöhner in zwei Tagen.«

Donat zuckte die Achseln. Aber das Lob tat ihm wohl. Und nachher half er Anschi das Eßgeschirr waschen und abtrocknen.

»Das ist keine Mannsarbeit«, widerstrebte sie.

Er erwiderte: »Arbeit ist Arbeit. Einer wie ich darf nicht wählerisch sein.«

Am Abend kam es so:

»Vater«, sagte Anschi, »was meint Ihr? Donat könnte doch in der Säge Beschäftigung finden. Die haben jetzt den großen Auftrag für die Bahnbauten im Tal.«

»Wohl, wohl«, murmelte Zurbriggen. Zweifel klang in seiner Stimme, nicht wegen der Möglichkeit, die Anschi angedeutet hatte, sondern weil er, wie Donat selbst, sich sagte, der hier einmal ein Mann von Geltung gewesen, könne sich hier nicht als Knecht verdingen, hier nicht!

»Noch gestern hörte ich, es mangle an Arbeitern«, berichtete Anschi eifriger.

Donat schaute auf seinen Teller. Das alles quälte ihn. Das alles hatte keinen Zweck.

»Er wird das nicht wollen«, kopfschüttelte Zurbriggen.

Da erst verstand Anschi die Männer. Ihr blonder Kopf saß frei im Nacken, und ihr Gesicht leuchtete wie das der Mutter Helvetia auf dem Plakat zum eidgenössischen Schützenfest, wo die Landesmutter als die Landesverteidigerin abgebildet war und vor Mut blitzende Augen hatte. »Jetzt gerade nicht«, rief sie aus. »Jetzt gerade darf man sich nicht verstecken. Jetzt gerade muß man zeigen, was man ist. Wenn man im Anfang die Zähne zusammenbeißt, wird es schon gehen. Und bald wächst Gras.«

Während sie so sprach, zog die kleine Anna Donat die Uhr aus der Westentasche: »Du hast aber eine schöne Uhr«, sagte sie, löste die Kette und legte sie sich um das schlanke Hälslein.

Das alles, die Worte der Anschi und die Zutraulichkeit des Kindes schufen für Donat abermals eine große Behaglichkeit. Es fiel ihm auch ein, wie draußen in der Umgebung dieser heimischen Stube die Berge gen Himmel wuchsen, die Berge, an die er erst in den letzten Jahren recht festgewachsen war. Aber noch immer schien ihm das, was Anschi vorschlug, undurchführbar. Nur – auch das Fortgehen schien schwerer als je vorher.

Am nächsten Tag – denn auch an diesem nächsten war Donat noch da – ging Andreas, der Landjäger, vorbei, eben als Donat Anschi half, die Waschstande vor dem Hause auszugießen. Er stand still, rückte ein wenig seine Mütze und sagte: »Sind Sie eben auch wieder da.«

Donat schwieg und senkte den Kopf.

Aber die tapfere Anschi erwiderte: »Wir sind froh, daß wir ihn wiederhaben.«

Der gutmütige Rotbart, dem seine Amtspflichten manchmal schwer genug fielen, spürte plötzlich wieder, wie ungern er auch in Donats Fall seines Amtes gewaltet hatte. »Recht so«, stotterte er. »Es hat ja auch einer immer wieder eine Aussicht, wenn er jung ist.«

Da drehte Donat sich ihm rasch zu, konnte eine Aufwallung von Trotz nicht zurückhalten und sagte: »Das hat man und will man auch nützen. Lebendig begraben läßt man sich nicht.«

Andreas nickte auch dazu, lüftete die Mütze und erwiderte im Weggehen: »Viel Glück! Ich gönne es Euch gerne!«

Andreas, der Landjäger, war kein großes Stück Aufdenmatten; aber auf die Geschwister machte es einen starken Eindruck, daß die erste Wiederbegegnung Donats mit einem Zeugen seines Niedergangs so glimpflich verlaufen war.

Kurze Zeit nachher brachte Anschi heraus, daß der große Sägereibetrieb der Gebrüder Vonmatt noch immer nach Arbeitskräften fahnde. Und kurz darauf war durch ihre Vermittlung Donat Zurbriggen, der einstige »Herr«, Sägeknecht, schleppte Baumstämme, hackte das Beil in sie, lernte sie entrinden und schob die gesägten Bretter auf die Schichten.

Das war kein leichtes Ding. Nicht um der Schwerarbeit willen, aber wegen der hundert Blicke, die sich wie mit Widerhaken an einem festhakten, um des Deutelns und Murmelns und Hohnlachens willen, das man im Rücken spürte.

Donat aber blieb in Aufdenmatten, einen Tag und noch einen. Weil er sich irgendwie nicht loszureißen vermocht hatte. Inzwischen war im Ort das Gerede über seine Rückkunft losgebrochen: Der Zurbriggen war wieder da! Er hatte sogar die Unverfrorenheit zu bleiben! Jetzt war er in der Sägerei angestellt! Hahaha, hatte man gesehen, wie der feine Mann, der einmal beinahe Ammann geworden und der im feierlichen Rock alle Herrenleute der Welt empfangen, jetzt in alten sägemehlbestaubten Hosen einherging?

Die Leute von Aufdenmatten liefen, gafften, steckten die Köpfe zusammen, schimpften und lästerten.

Eines Tages sagte einer: »Respekt vor dem Donat! Er verdient ehrlich sein Brot, und die Vonmatts sagen, es wäre schon recht, wenn alle so anpacken würden wie er.«

Schnee verging. Gras wuchs neu.

Anschi hatte ja gesagt: Gras wuchs auch über die Vergangenheit.

Donat brauchte die Augen nicht mehr niederzuschlagen. Er konnte sie jetzt manchmal ans Ewigschneehorn heften, auf dessen vereistem Gipfel die goldenen Spieße der Sonne zersplitterten. Manchmal wich das Gefühl von Schmach von ihm; seine Sinne erwachten, und durch das Zischen des Wassers und das Singen der Säge vernahm er den Klang der Herdenglocken von den Hängen und das Rauschen des Windes in den Wäldern. Herrlich! Herrlich! Die Brust war ihm manchmal zu eng vor Freude.

In ungemessener Höhe, daß es wie aus einer andern Welt herabtönte, gingen Lawinen in den Bergen. Was war dort für ein fremdes, Wunder verbergendes Land!

Aber da war noch etwas anderes: man kam müde von der Arbeit heim. Und man atmete auf, wenn die Tür hinter einem zufiel und lauter Traulichkeit einen umwehte. Am Ende jeder Woche legte man Anschi den Anteil am Lohn hin, der als Beitrag an die Haushaltkosten hingenommen wurde. Auf diese Weise war man für Vater und Schwester keine Last und durfte sich unbeschwerten Herzens an den gedeckten Tisch setzen. An diesem Tisch, in diesem Hause fiel nie ein Wort von der letzten Vergangenheit. Man sprach von Donats jetziger Tätigkeit, von den kleinen Ereignissen des Haushaltes, von Anna und ihren Schulerlebnissen. Anschi erzählte manchmal, was sich im Dorf begab, wo Donat nicht hinkam. Sie konnte berichten, daß Allmendingers Geschäfte blühten, daß nichts von allem, was Donat in Aufdenmatten geschaffen, sich als Fehlspekulation erwiesen hatte. Einmal wiederholte sie eine Äußerung des Talammanns, der ihr begegnet war: »Deinem Bruder Donat hat man doch mächtig viel zu danken.« Ein andermal brachte sie die Nachricht, daß die Zinszahlungen der Einlagen der Frau Schelbert regelmäßig geleistet würden. Es gäbe jetzt Leute im Ort, die meinten, im Grunde sei das Gericht mit Donat viel zu hart umgesprungen. Eigentlich sei durch ihn niemand schwer zu Schaden gekommen!

Anschi erzählte dergleichen nur so im Vorbeigehen und ohne ihm Wichtigkeit beizumessen. Aber sie wußte wohl, daß ihre Worte dem Bruder halfen, sich selber wiederzufinden.

Zu Anfang eines Winters brachte Anschi eine Neuigkeit, die sie mit Lächeln ausplauderte: die hübsche Rosmarie Allmendinger habe ihre Gunst Donats Nachfolger, einem fixen, jungen Menschen und Hotelsekretär zugewendet und stehe im Begriff, sich mit ihm zu verloben.

Donat schaute einen Augenblick vor sich hin: »So ist es«, sagte er dann und lächelte auch. »Die Rosmarie hüpft in dergleichen hinein wie ein Spatz in einen kleinen Körnertrog. Es kommt nicht auf die Art an, wenn man's nur picken kann! Es ist nur der Kopf dabei und ein wenig der eitle Sinn. Das Herz hat dabei nichts zu tun. Aber es wird sicher alles gut gehen.«

Manchmal an Sonntagen kam es vor, daß Anschi und Anna ausgegangen waren und Vater und Sohn sich unversehens miteinander allein fanden.

Des alten Zurbriggen Haut war braun und runzelig wie altes, verschrumpftes Leder, aber er las noch ohne Brille, und die Pfeife ließ er nicht ausgehen.

An einem solchen Tage kamen die beiden, sie wußten selbst nicht wie, auf des Vaters Bergführerberuf zu sprechen. Der Alte erwähnte, die Führer seien jetzt ganz andere Leute als früher, Menschen, die ihren Dienst schlecht und recht versehen würden, aber auf ein gutes Trinkgeld mehr als auf irgendeine Heldentat Wert legten. Männer, wie etwa der Toni Kaufmann, der sogar zu Besteigungen ins Himalajagebirge gerufen worden sei, oder der rote Trösch, der im Laufe seines Lebens zwölf Menschen das Leben gerettet, gäbe es jetzt nicht mehr.

»Auch einen Zurbriggen-Arnold nicht«, lächelte Donat.

Da schaute der Vater, der immer noch nicht recht wieder den Weg zum Sohn gefunden hatte, diesem zum erstenmal seit langer Zeit wieder einmal mit guten Augen ins Gesicht. Aber auch Donat fühlte sich dem Vater wieder näher. Er war jetzt in den Bergen wieder heimisch geworden, war es mehr als je, viel mehr als in seiner Jugend. Auch das Gewerbe des Vaters hatte in seinen Augen an Bedeutung gewonnen. Weil aber jetzt jeder von ihnen in Erinnerung versank, vergaßen sie eine Weile das Weiterreden.

Donat wunderte sich wieder einmal über sich selbst und daß er noch immer daheim und in diesem Aufdenmatten saß, daß ihm von Tag zu Tag weniger um Wiederfortgehen war. Er gestand sich, daß wohl diese engen, traulichen Stuben, Anschi, Anna und jetzt allmählich auch der Eigenbrötler von Vater daran schuld waren. Aber es dünkte ihn in diesem Augenblick, ihn halte hier doch am meisten das Land selbst fest, diese Welt von Gipfeln, Wänden, Schluchten und Schneefeldern. Gott wußte, wie das in ihn hineingewachsen war. Und nun, wohl geweckt durch das Gespräch über das Bergführergewerbe, packte ihn ein jähes Gelüsten, auch im Hochgebirg zu wandern. Er verriet an diesem Tage nichts davon. Aber das Gelüsten wuchs und wuchs in der Folge. Jetzt lockte ihn das Ewigschneehorn und jetzt die Todeswand am Wiesenhorn. Da äußerte er sich ein anderes Mal zu Zurbriggen: »Es ist mir, als rumortet Ihr selber in mir, Vater. Ich habe wie ein Fieber, daß ich hinauf in die Berge sollte. Das muß einer aber wohl von Jugend auf getrieben haben, damit aus einem etwas Rechtes werden kann.«

Zurbriggen antwortete erstaunt und zögernd: »Ich selber bin am Ende auch nicht als Bub dazu gekommen. Ich war in meiner Jugend ein Schreiner und schon dreißig, als ich mir das Führerpatent geholt habe.«

Donat sah den Vater groß und gedankenvoll an; aber er sagte nicht, was ihm durch den Kopf ging. Er hörte nur mit noch gespannterer Aufmerksamkeit zu, wie Zurbriggen jetzt ganz von selbst ins Erzählen geriet und von den Anfängen seiner Laufbahn zu berichten begann.

Eine Woche später, als Anschi aufstand, um das Frühstück zu richten, fand sie einen Zettel auf dem Küchentisch mit den Worten: »Ich bin in die Berge gegangen. Donat.«

Anschis Herzschlag stockte. War das denn wie eine Krankheit in den Männern?

Als sie später den Zettel dem Vater zeigte, kicherte der in sich hinein: »Ich habe immer gemeint, er ist der Elise ihrer; aber er hat doch einen Schuß von meinem Blut abbekommen.«

Dann ging es, wie es zu Gallus Stettlers Lebzeiten gegangen, es litt an diesem Tage Anschi nicht recht bei der Arbeit. Immer wieder trat sie ins Freie, um nach den Bergen zu sehen. Sie wußte nicht, wohin Donat sich gewandt hatte. Ein feiner, blauer Dunst spann rings um die weißen gewaltigen Gipfel. Ihr! Ihr! redete Anschi sie in Gedanken an. So manchen habt ihr schon genommen! Nun wollt ihr auch den noch haben!

Sie hatte nie vorher so gespürt, wie nah ihr auch Donat stand. Sie fügte sich gleichsam in Gottes Namen in das, was sie längst als unvermeidlich erkannt zu haben glaubte. Und sie wartete auf Donats Heimkehr, wie sie einst auf Gallus gewartet hatte. Nur der schmal zusammengepreßte Mund verriet manchmal ihre Unruhe.

Donat kam zurück, als es schon Nacht war. Als er den Pickel in die Ecke stellte, sah Anschi, daß es einer von denen des Vaters war. Aber nicht das Beil, Donat selbst erregte ihr Staunen. Er war heute ein anderer als sonst. Seine Gestalt erschien zäher, gedrungener, als habe die Anstrengung des Tages ihm alle Muskeln zu Stahl gehämmert. Die Geschniegeltheit des einstigen Gastwirts war jetzt völlig verschwunden. Selbst die Haut des Gesichts hatte sich verändert und trug die Spuren des Windes, der Kälte, der Sonne.

»Ich bin auf dem Goldenhorn gewesen«, erzählte Donat einfach, als er sich jetzt zu den andern an den Tisch setzte.

»Mit wem?« fragte Zurbriggen.

»Allein«, antwortete Donat.

Der Vater schwieg. Erst nach einer Weile erwähnte er: »Da muß einer sich sputen, wenn er den Berg in einem Tage machen will.«

Aber keines machte ein weiteres Aufhebens davon. Nur manchmal ruhten die Blicke des Vaters und der Schwester auf Donat und wunderten sie sich im stillen: Was will es mit dir noch werden?

Donat scherzte mit Anna. »Hast Tatzen gekriegt in der Schule?« fragte er sie.

Sie lachte und erwiderte, sie würde es dem Lehrer nicht raten. Vorläufig sei sie eine freie Schweizerin, die sich nicht schlagen lasse.

Donat dachte, daß sie die rechte Tochter der Anschi und des Gallus sei. Er neckte sie aber weiter: »Was wolltest machen, wenn er mit dem Lineal käme?«

»Er würde es nicht lange haben, das Lineal«, prahlte sie und war so blond wie ihre Mutter, und hatte gerade so strahlende Augen, und hatte jenes Geschwinde, Freie, wie es das Schneehuhn hat, das in der Bise über die weißen Flächen der Alpenmatten läuft.


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